Ein Meer von glänzenden Autos, formatfüllend: Seit es Autos gibt, vergeht kein Jahrzehnt, in dem dieses Bild nicht für eine Weile die Medien beherrscht. Thomas Bayrle hat es schon vor rund fünfzig Jahren zu Kunst gemacht. Den strahlend roten "VW" (1969) mit der freundlich geschwungenen Stoßstange setzte er zusammen aus unzähligen kleineren VW-Käfern. Ein Versprechen an alle, dank Massenfertigung. Das Auto, dein Freund. Nur wenige Jahre später sah dieselbe Blechlawine unter Umweltaspekten schon bedrohlicher aus. In der Wirtschaftskrise 2008 mussten die überflüssigen Neuwagen dann gerettet werden, bis heute schreibt sich das Bild der Autoflut fort. Thomas Bayrles "VW" von 1969 ist eines jener wenigen Kunstwerke, denen mit jeder Epoche eine neue Facette der Bedeutung zuwächst, und die dadurch immer aktuell sind.
"Ich habe es einfach vom Ornament her gesehen. Nicht vom Inhalt her, sondern vom Raster dieser Masse, die nicht mehr beherrschbar war." Der Künstler und seine Frau Helke sitzen in ihrer Küche, Holzteller an der Wand, ein Perserteppich im Flur, und die Tischplatte ist so oft blank gewischt worden, dass das Holz ganz hell ist und Mulden aufweist. Doch wie in Bayrles Arbeiten ist in dem Bild eine zweite, unbürgerliche Ebene zu erkennen: Der Perserteppich stammt aus Afghanistan und zeigt Panzerfäuste, Raketen und Kettenpanzer – ein Mitbringsel von Kasper König. Der Holzteller ist ein nie versiegendes Alka-Seltzer von restless Kippi, Martin Kippenberger: "Ippik Reztles". Die altdeutsch anmutende Küchenuhr hat nur Vieren als Ziffern: "Kein Bier vor vier!" Und an diesem abgewetzten Tisch mit gedrechselten Beinen haben viele wichtige Figuren der Gegenwartskunst gesessen.
Natürlich auch Bayrles Schüler, von denen heute manche bekannter und am Kunstmarkt erfolgreicher sind als er. Von 1975 bis 2002 lehrte Bayrle an der Frankfurter Städelschule und brachte so unterschiedliche Künstler wie Tobias Rehberger, Thomas Zipp, Silke Wagner, Thilo Heinzmann und Sergej Jensen auf den Weg. Vor vielen Jahren saß zum ersten Mal der damals 19-jährige Hans-Ulrich Obrist hier. Bayrles Küche ist eine Keimzelle. Kein anderer Begriff passt so gut zu ihm und seiner Kunst, die das kollektive Potenzial der kleinsten Teile zum Prinzip erhoben hat.
Schuhe. Kondensmilch. Brüste. Bierkrüge. Im Werk von Thomas Bayrle ist kaum etwas wichtiger als das andere, alles kann zum Element eines Allover-Konstrukts werden, das die Wiederholung des Einzelnen so weit treibt, bis sich etwas anderes, Größeres, daraus ergibt. Ein Auto aus zahllosen Autos. Ein laufender Sportler aus Hunderten Anzugträgern. Stalin aus lauter Schnurrbärten. Eine dampfende Tasse Kaffee aus einem Heer germanischer Krieger.
Nicht immer entsteht eine unmittelbar schlüssige Summe aus all den Teilen, aus Bedeutetem und Bedeutendem, aus Zeichen und Superzeichen. Diese monty-pythonhaft absurden "Kaffeegermanen" zeigen eine schräge Seite des weitverzweigten Bayrle-Universums. Andererseits: Wir befinden uns irgendwann am Ende des Wirtschaftswunders, inmitten des Kalten Krieges. Als auf Rudi Dutschke geschossen wird, druckt Bayrle nachts Poster und plakatierte sie in der Stadt: "Die Revolution stirbt nicht an Bleivergiftung." Am nächsten Morgen dann wieder Auftragsarbeiten für Ferrero. Mon Chéri.
Wenn also das Heer der Germanenkrieger mit den Armbrüsten im Anschlag das Erbgut ist, und die Tasse Kaffee die evolutionäre Spitzenleistung daraus, dann wurden offenbar all die Gefechte zu unserer größten Zufriedenheit ausgetragen. Dann haben sie für uns, die Nachgeborenen, den Genuss einer bekömmlichen Tasse Schonkaffee errungen, der Krönung des Privatfriedens in der guten Stube.
Bayrle wendet bei der Behandlung der ganz großen Fragen allen gebotenen Ernst auf, aber auch nicht mehr. Ob "Liebe" oder "Butter" aus zweifarbigen Schuhen, eine masturbierende Frau aus nackten Frauen oder ein Rudel Lederhosenbayern, das sich zu einer Rakete formiert: Das Große ist das Kleine, das Alberne darf ins Heilige, und das Sakrale steckt auch im Geringsten.
Unendliche Erweiterung des Blutkreislaufs
Ein beiläufiger Humor zählt zu den großen Stärken seiner Kunst, die weder predigt noch ätzt, sondern zeigt, was ist. Die Wahrnehmung des 1937 in Berlin geborenen und in Hessen aufgewachsenen Bayrle hat immer ein wenig außerhalb des Normalen gelegen. Als wäre sein Platz von Anfang an einen Schritt neben dem Rest gewesen, und als hätte er durch diesen minimalen Abstand die Dinge besser gesehen und gehört. Isolierter, und dafür doch in einem größeren Ganzen eingebettet. Schon sehr früh habe er Zusammenhänge vermutet, erzählt er. Zwischen den gemurmelten Rosenkranzgebeten in der Dorfkirche, den Schlägen der Dampfmaschine im Sägewerk, dem tausendfachen Summen auf der Wiese, den Traktoren. Das alles sei ihm vorgekommen wie eine unendliche Erweiterung des eigenen Blutkreislaufs, der wiederum nichts anderes sein konnte als ein Echo auf alle und auf alles.
Auch später ist er fasziniert von Dingen, die für andere abschreckend sind: gleichgeschaltete Menschenmassen in China, Fließbänder, Autobahnkreuze. Doch Bayrle erkennt die formale Schönheit und Struktur: Jeder Strang durchdringt den anderen. Alles muss durch alles. Das Leben, weiß Thomas Bayrle, ist gewebt.
In den 50er-Jahren geht er zur Ausbildung nach Göppingen in eine Weberei. "Es gab eine Abteilung, Jacquard, da wollte ich hin." Joseph-Marie Jacquard, Sohn eines Webers, erfand Ende des 18. Jahrhunderts den automatisierten Webstuhl, der mittels Lochkarten hoch individualisierte Muster und Motive in der Massenproduktion möglich machte. "Deshalb beruft sich heute ja jedes gute Computerbuch auf Jacquard. Der hat das Denken erfunden – vor allen anderen Mathematikern." Der Maschinenpark aus Webstühlen produziert hirnerweichend monotonen Lärm. "Jede Disco war ein Friedhof dagegen", sagt Bayrle. Dang, dang, dang, dang. Bayrle haut auf den Küchentisch, gerade so lange, bis es unbehaglich wird. Dann hört er auf. So bekommt man eine Idee. Es sei unmöglich gewesen, sich dagegenzustemmen. Also habe er sich entschlossen, darin aufzugehen. "Der Rhythmus war das Wichtigste. Da ging’s ums nackte Überleben." Schuss und Kette. Schuss und Kette. Wie die Traktoren, wie die Dampfmaschine. Heilige Muttergottes. Das Mantra, die Wiederholung bis zur Auflösung, wird zur nicht mehr auslöschbaren Struktur.
Verdichtung, Kumulation, Kontrollverlust
In der Kunst, die er erst viel später als Autodidakt beginnt, experimentiert Bayrle mit Verdichtung, Kumulation, schließlich provoziert er den Kontrollverlust. Die Einzelelemente werden unzählbar, werden zu Tapeten und Teppichen. Das ist Bayrles Interpretation der Leistungspyramide: ein immer nachwachsender Grießbreiberg, der nicht zu stoppen ist und irgendwann die Wände hochkriecht, auf Mobiliar und Architektur übergeht, durch die Städte quillt und sich schließlich auch auf den Körpern der Menschen ausbreitet wie Scharlach oder Röteln. Die Regencapes und -mäntel mit seinen Allover-Prints, die er von den Designerinnen Lukowski und Ohanian anfertigen ließ und die bei Kaufhof für 29 Mark verkauft wurden, hätte er am liebsten aus der Vogelperspektive gesehen: Die Menschen als Rasterpunkte in der Fußgängerzone, übersät mit weiteren Rastern, unter der Haut geht es weiter, und in jeder Zelle steckt das Ganze. Gleichzeitig sahen diese Mäntel natürlich fantastisch aus, jener gewichtige philosophische Gedankenstrom konnte genauso gut mit Leichtigkeit an ihrer glatten, verheißungsvollen Oberfläche abperlen. Sie funktionierten auch einfach als glänzendes Statement zwischen Hoch- und Popkultur.
Zwischen Kunst und Gebrauchsgut waren sie eine der intelligentesten Ideen dieser Zeit. Was gewiss dazu beitrug, dass Thomas Bayrle lange als die deutsche Stimme der Pop-Art missverstanden wurde. Als die deutsche Antwort auf Andy Warhol, aber eben nur als die Antwort.
Ein Irrtum. Doch erst heute schärft sich der Blick auf das eigentlich Visionäre an Bayrle. Seine künstlerische Herangehensweise unterscheidet sich fundamental von den Erben der Pop-Art, deren Methode immer eine bestimmte Drastik einschließt. Stattdessen fragt er: Wie kann man zu einer Beschreibung der Welt finden, die sich nicht aus den Extremen formuliert, sondern aus ihrer Mitte heraus?
An der Pop-Art, mit der Bayrle immer in Verbindung gebracht wurde, hat ihn immer nur die direkte Formensprache interessiert. Eine Sprache, die er, der professionelle Werbegrafiker und Betreiber einer Druckerei für Reklameposter, auch ohne Übersetzung aus dem Amerikanischen durch Warhol und Lichtenstein beherrschte. Während diese sich die Ästhetik der Massenkultur in einer jeweils persönlichen künstlerischen Handschrift zu eigen machten – und damit einem im Grunde traditionellen Künstlerbild folgten –, war Bayrle längst angezogen von der kalten, entpersonalisierten Grammatik des Seriellen. Er überführte sie präziser und radikaler in die Kunst als die amerikanischen Kollegen. Bayrle forschte nach Konstruktionsmustern für seine alles umfassende Idee: Wie viele Kaffeetassen braucht man, um daraus eine Frau beim Kaffeetrinken zusammenzusetzen? 1078, keine mehr und keine weniger. Victor Vasarelys Op-Art trug zur Entwicklung seiner Bildwelten mehr bei als Warhols Glorifizierung der Konsumwelt. Bayrle selbst versucht schon ab 1967, einen persönlichen Strich komplett zu vermeiden, Produkte zu machen, die wie Maschinen aussehen.
Auflösung der Gattungen
Während Warhol noch Velvet Underground ist, ist Bayrle bereits Kraftwerk. Er nimmt mit seinen geklonten Zellkörperchen, seinen Loops und mäandernden Strukturen, seinen flach organisierten "mille plateaux" Denkformen vorweg, für die erst viel später eine Sprache gefunden wird. "Dabei war mir nie klar, wo die Reise hingeht. Ich hatte Zweifel, die beschleichen mich bis heute. Ich dachte zum Beispiel, ich empfinde etwas Undenkbares, wenn ich Rosenkranz und Fließband zusammenbringe." Es dauerte lange, bis er wagte, darüber zu sprechen. Es gab Jahre, da kam die Bestätigung vor allem von seinen Studenten. Tobias Rehberger zum Beispiel, der einfach "angstfrei in alles reinging" und sich um Unterschiede zwischen Design, Architektur, Werbung und Kunst nicht kümmerte – diese Auflösung der Gattungen, von der Bayrle schon früh wusste, dass sie stattfinden musste. Weil alles durch alles muss. "Es ist ja nicht einfacher, gute Werbung zu machen als gute Kunst", sagt er. "Das Problem besteht ja nicht im Medium, sondern darin, dass es eben gut sein muss." Der Lehrer Thomas Bayrle konnte von sich selbst absehen und in der Entwicklung seiner Schüler aufgehen, in jeder Richtung, die Qualität versprach. "Zwei sind sogar Ärzte geworden", sagt Bayrle vergnügt.
Und wie hat er Generationen von jungen Kunststudenten immer wieder die Angst genommen, auch in einer sich rasant entwickelnden Kunstwelt? Die Situation sei doch immer die: "Einerseits scheint alles möglich, und andererseits ist angeblich alles schon einmal gemacht worden. Wenn man es genau prüft, bleibt von dieser vermeintlich grenzenlosen Freiheit nicht viel übrig", sagt Bayrle. "Zwar stellt sich alles als möglich dar, aber bei näherer Betrachtung ist nur ganz wenig möglich. Und natürlich ist andererseits auch nie alles gemacht worden. Nie ist alles gemacht, und nie ist alles möglich."
Dabei macht gedankliche Präzision alleine für Bayrle noch kein gutes Werk aus, der Umgang mit dem Material entscheidet. "Es muss auch weiterhin Kunst bleiben, das finde ich das Wichtigste: dass es stofflich stimmt. Wir sind schließlich keine Theoretiker. Und wenn das Material nicht mitmacht, dann ist es eben nichts. Wenn die Kunst gesellschaftlichen Verhältnissen hinterherrennt, dann ist es anekdotisch. Man muss seine Mittel und die Stofflichkeit so weit bringen, dass sie mindestens ein Äquivalent bilden zu dieser Realität, in der wir leben."
Der Text ist eine gekürzte Version des Bayrle-Porträts aus Monopol 04/2009