Das muss man dem Zentrum für Politische Schönheit (ZPS) lassen: Die Choreografie, mit der das Künstlerkollektiv um Philipp Ruch Eskalationen anzettelt, folgt einer beeindruckenden Rationalität. Da werden eine Woche vor der geplanten Kampagne Mails an Medienvertreter verschickt, mit Uhrzeiten für die Pressemitteilung und die Pressekonferenz am Tag X sowie möglichen Foto-Optionen. Am Tag X dann maximale Irritation und Überraschung in Form einer Website, einer Straßenperformance, einer Skulptur. Dann abwarten.
Am Montag war es wieder soweit: Das ZPS launchte eine Website, postete einen Aufruf in den sozialen Medien und verschickte eine Pressemitteilung: "Denunzieren Sie noch heute Ihren Arbeitskollegen, Nachbarn oder Bekannten und kassieren Sie Sofort-Bargeld", fordert das ZPS und bietet finanzielle Belohnungen für die Indentifizierung von Rechtsextremen, die bei Ausschreitungen im Sommer in Chemnitz Straftaten begangen haben. "Helfen Sie uns, die entsprechenden Problemdeutschen aus der Wirtschaft und dem öffentlichen Dienst zu entfernen." Für die Kampagne mit dem Titel "Soko Chemnitz" will das Künstlerkollektiv drei Millionen Bilder von 7.000 "Verdächtigen" ausgewertet haben. "Das Ziel: den Rechtsextremismus 2018 systematisch erfassen, identifizieren und unschädlich machen."
Auf der Website sind hauptsächlich Fotos von Männern zu sehen: einige AfD-Politiker, einige anonyme Personen mit schwarzem Balken über den Augen, teilweise nicht-anonymisierte Fotos von Unbekannten. Über ein Formular können User die Namen, Adressen und Arbeitgeber der gesuchten Personen angeben. In einem Büro in Chemnitz soll man sich für solche Denunziationen eine Belohnung abholen können.
Ob diese angeblich Verdächtigen real sind, ist bislang nicht bekannt. Vermutlich sind nur die AfD-Politiker real. Das ZPS durchdenkt vorher jede Aktion bis ins letzte Detail, auch wenn es zunächst nicht so aussieht. Es riskiert zwar permanent gerichtliche Auseinandersetzungen – aber keine Niederlagen. Nach eigenen Angaben hat es von 30 Gerichtsprozessen keinen einzigen verloren. Der Trick: Es handelt sich immer um ein durch die Kunstfreiheit geschütztes Kunstwerk. Und wenn es sich um Kunst handelt, dürften bei der neuen Aktion nur die Fotos der Personen öffentlichen Interesses real sein.
Das ZPS spielt immer mit dem "Was wäre, wenn ...": Was wäre, wenn Flüchtlinge Tigern zum Fraß vorgeworfen würden, wenn ein Charterflugzeug Flüchtlinge nach Berlin brächte, wenn Flüchtlingsleichen vor dem Reichstag bestattet würden? Die Ungeheuerlichkeit liegt im Gedankenspiel.
Mit seinem neuen Kunstwerk dreht das ZPS rechte Rhetorik um. Allein das Vokabular, mit dem auf der Website "Soko Chemnitz" die Rechtsextremen bezeichnet werden ("Vaterlandsverräter", "Deutschlandhasser" und "Volksverräter"), legt den Schluss nahe. Die Internetseite parodiert offenbar auch Online-Pranger, etwa das Portal, mit dem die AfD in Hamburg Schüler, Eltern und Lehrer auffordert, "politische Indoktrination" gegen die Partei in Schulen zu melden. Sie erinnert auch an den Eifer und Tonfall, mit dem die "Bild" und die Hamburger Polizei im vergangenen Jahr nach G20-Randalierern suchte. Die ZPS-Aktion spiegelt rechte Fantasien von Selbstjustiz, wie sie immer wieder von Demonstrationsteilnehmern – auch in Chemnitz – geäußert werden. Gerade am Wochenende forderte ein Demonstrant vor dem Brandenburger Tor die gewaltsame Erstürmung des Reichstags.
Das ZPS hingegen stürmt nichts. Es verletzte – durch Gerichtsurteile nachgewiesen – bislang keine Persönlichkeitsrechte, auch nicht die des AfD-Politikers Björn Höcke, vor dessen Privathaus das Kollektiv einen Nachbau des Berliner Holocaust-Denkmals gesetzt haben. Eine Künstlergruppe arbeitet mit Zeichen.
Die erste Eskalationsstufe ist am Montagnachmittag jedenfalls schon gezündet: Die sächsische Landesregierung hat die Künstlergruppe aufgefordert, das Logo der Standortkampagne "So geht sächsisch" von der Website zu entfernen, wütende Menschen versammelten sich vor dem ZPS-Laden in Chemnitz, in dem Denunzianten angeblich ihre Belohnung abholen können, und die Stadt Chemnitz, die die Ladenräume vermietet, ließ das Objekt von der Polizei räumen. Und die Berliner Beauftragte für Datenschutz, Maja Smoltczyk, forderte vom ZPS Aufklärung über die Aktion. Was dabei rauskommt, wird man sehen.
Als Kunst betrachtet liegt die Schönheit auch dieser ZPS-Aktion in der beeindruckenden Ökonomie der Mittel im Verhältnis zum großen Symbol-Ertrag: Die Künstler legen vor, den Rest der Arbeit machen andere.