11. Istanbul-Biennale

Aufruf zur Revolte

Die 11. Istanbul-Biennale übt sich in Zahlenspielen und Sozialismus. Ein ehrenwerter Versuch, auch wenn er im Großen und Ganzen misslingt. Was fehlt, ist Gegenwart

Eine Beleidigung für jeden großzügig denkenden Menschen: diese aus der Nähe so kleinteilig wirkende Gegenwart. Warum also nicht noch einmal Anlauf nehmen, ein paar Schritte zurückgehen? Vielleicht ergibt sich ein Gesamteindruck.

Es gehört Mut dazu, eine Ausstellung zu konzipieren, die 100 Jahre alte Problematiken und Prämissen noch einmal in die Luft wirft. Das Design der Flaggen, die in den Straßen am Bosporus hängen, des Katalogs und der Flyer wirken wie ein Aufruf zur Revolte: „11. I.STANBUL BI.ENALI.“ steht da in schwarzer und roter Farbe, in knalliger, retrorevolutionärer Rodtschenko-Schrift. Ein Experiment also: Wie weit kommt man mit Wehmut und guter Hoffnung?


Die offizielle Leitfrage dieser so konsequent durchdachten Biennale lautet aber: „Wovon lebt der Mensch?“ Dieses Rätsel aus Bertolt Brechts „Dreigroschenoper“ war Ausgangspunkt des vierköpfigen kroatischen Kuratorinnenteams, das sich einen Namen gegeben hat, der weiter Grundsätzliches aufwirft: What, How and for Whom (WHW).

Die Frauen von WHW fahren für die Frage nach dem Was erst einmal Statistiken auf: 70 Künstler werden auf dieser Biennale präsentiert, „30 Frauen, 32 Männer, drei kollaborative Projekte und fünf Kollektive. 141 Arbeiten sind an drei Orten ausgestellt, 14 Arbeiten aus Privatsammlungen und 124 Arbeiten aus dem Besitz der Künstler. Der jüngste Künstler ist 27 Jahre alt, der älteste 76. Fünf Künstler sind tot.“


Und so geht es weiter: Was die Ausstellung gekostet hat, wie hoch die Reisekosten für die Künstler waren, welchen Hintergrund die Teilnehmer haben. Die Zahlen belegen vor allem, dass die Kuratorinnen Stimmen von den Rändern des Kunstmarkts und des europäischen Ausstellungsbetriebs eingeholt haben; ein Großteil der Beiträge kommt aus Osteuropa, der Türkei und dem Nahen Osten.

Die Liebe zu Zahlen setzt sich in vielen Kunstwerken fort. Ihnen kommt die Aufgabe zu, Nummern wieder zurück in konkrete Materie zu übersetzen und greifbar zu machen. Wussten Sie zum Beispiel, dass die drei reichsten Menschen der Erde so viel besitzen wie die 600 Millionen ärmsten zusammen? Falls ja, können Sie es sich sicher noch nicht vorstellen. 600 Millionen Mal die Ziffer Drei hat Mladen Stilinovic´ in „Nobody Wants to See“ auf weißes Papier drucken lassen. Die Bögen stapelte er zu Blöcken, als ginge es hier um reinen Formalismus, der nichts weiter will, als durch Strenge zu beeindrucken. Die Spannung zwischen minimalem Einsatz und maximaler Wirkung prägt die besseren Exponate dieser Schau.

Als Patron künstlerischer Datenverarbeitung ruft die Biennale den 1997 verstorbenen KP Brehmer an, dessen Tabellen an allen Stätten hängen. In den 70er-Jahren hatte er Statistiken aus Wirtschaft und Gesellschaft eigenen Deutungen unterzogen – und versucht, daraus Entwicklungen abzulesen. Die Freude, die er gehabt haben muss, schnöde Angaben anschaulich aufzubereiten, ist heute noch zu erkennen. Da aber die Infografik in der Zwischenzeit eine unglaubliche massenmediale Karriere hingelegt hat und Brehmers Messwerte nur noch historisch interessant sind, steht man auch ein wenig ratlos vor den billboards.


Verwirrung ist allerdings nicht der Zustand, den die Macherinnen vom Besucher erwarten. Er soll lernen. In diesem Jahr findet erstmals ein Teil der Ausstellung in einer ehemaligen griechischen Schule statt (was an die jüdische bei der Berlin-Biennale 2006 erinnert). In der Installation von Lado Darakhvelidze muss man sich gar hinter alte Pulte klemmen: An die Tafeln hat er mit bunter Kreide vage Zusammenhänge zwischen der Berichterstattung über den letztjährigen Georgienkrieg und die Olympischen Spiele in Peking gezeichnet, zwei Ereignisse, die fast zeitgleich starteten. Hier knallt das Feuerwerk, dort das Gewehr – im Fernsehen läuft alles auf einmal und parallel.

Das unterscheidet einige der Künstler auch von bloßen Chronisten: Sie überprüfen die Mittel, mit denen Realität erfasst wird. Dieses Nebeneinander zwischen politischer Agitation und Distanz zur eigenen Bild- und Wirklichkeitsproduktion erschwert zwar die Rezeption, verleiht der Biennale aber gleichzeitig eine schöne Ambivalenz.


Bei zahlreichen Arbeiten gerät die Auseinandersetzung mit der politischen Realität indes nur zur platten Demonstration. Was soll man etwa lernen von Igor Grubic´s Zweikanalvideoinstallation „East Side Story“ im Keller der Schule? In einer Projektion wird man mit dokumentarischen Aufnahmen von Ausschreitungen gegen Homosexuellenparaden in Zagreb und Belgrad konfrontiert, in der zweiten Projektion tanzen kleine Menschengruppen diese Szenen an den Originalschauplätzen nach. Der Wucht der Medienbilder hat er nur Kitsch entgegenzusetzen.

Auch Beiträge so wunderbarer Künstler wie Hans-Peter Feldmann sind häufig nicht die besten: Er legte eine angeknabberte Brotscheibe auf einen weißen Sockel. Wovon lebt der Mensch? Nicht von Kunst allein. Nun gut.
Es ist eben keine Show der großen Namen. Mit etwas Geduld lassen sich hier jedoch Entdeckungen machen. Beeindruckend etwa: der 30 Jahre alte Film „Step by Step“ des Syriers Mohammed Ossama, der ziemlich modern vom Erwachsenwerden auf dem Land erzählt. Gedacht war diese Abschlussarbeit für Ossamas Studium in Moskau als ein Porträt der Schönheit Syriens. Collageartig wird dann aber vom Konflikt zwischen dem Einzelnen und der Tradition berichtet – die Bilder fahren sich gegenseitig in die Parade.

Der Mitte der 90er gestorbene Franzose Michel Journiac arbeitete zeitgleich in Europa an ähnlichen Problemaufrissen, bedachte aber auch deren Lösung gleich mit: In seinen Fotografien schlüpft er in die Rolle seiner Mutter, seines Vaters und möglicher Freundinnen, als wollte er Familienaufstellungen und Psychoanalyse verspotten. Es ist eine der wenigen Arbeiten der Biennale, die Ironie einsetzen.


Aber immer, wenn es am schönsten ist, regen sich Zweifel: Kann es sein, dass diese Kunst allein kraft ihrer Patina wirkt? Die gesamte Ausstellung schwelgt in Nostalgie, und vor allem viele der osteuropäischen Gegenwartskünstler ergeben sich noch einmal in den vielen Filmen und Schautafeln ganz der Bildsprache der sozialistischen Kunst und Propaganda. „For whom – für wen?“ möchte man mit den Worten der Kuratorinnen fragen.

Im nächsten Jahr wird Istanbul als eine der drei Kulturhauptstädte Europas im Fokus stehen. In der Vorbereitung spielte die zeitgenössische Kunst bislang kaum eine Rolle. Stattdessen setzt die Organisation auf prestigeträchtige, teure Projekte, die noch mehr Touristen nach Istanbul locken sollen. In diesem Zusammenhang liefert die Schau allerdings ein selbstbewusstes Statement, das der Stadt guttut.


Verschiedene Orte, Istanbul, bis 8. November