Bildbiografie von Iris Apfel

Der letzte Gruß einer Unsterblichen

Es dauerte nur 70 Jahre, bis Iris Apfel "über Nacht berühmt" wurde. Im März ist die Mode-Ikone mit 102 Jahren gestorben. Nun erscheint ihre opulent bebilderte Autobiografie, die Lebensweisheit mit Stilgefühl verbindet

Wer sich nicht an ihren unermüdlichen Schaffensdrang erinnert, erkennt sie spätestens an den übergroßen Brillen und opulenten Outfits. Als Enthusiastin der Vielfalt ist Iris Apfel als Stil-Ikone in Sachen Mode, Textil- und Interior Design in die Geschichte eingegangen. Im März starb die New Yorkerin mit fast biblischen 102 Jahren

Nun erscheint ihre Autobiografie "Colorful. Welche Farbe hat das Glück?" posthum und ist ein knallbuntes Sammelalbum über alles, was das "Apfelversum" betrifft. Wer eine Lebensgeschichte aus schwarzen Buchstaben auf weißen Seiten erwartet, wird natürlich enttäuscht – oder erfreut. Denn "Colorful" ist ein sehr persönliches Fotoalbum, das durch pointierte Geschichten aus der Welt der Reichen und Schönen gemischt mit sensiblen Lebensweisheiten an eine Retrospektive in Buchform erinnert. 

300 bislang unveröffentlichte Fotos dokumentieren Apfels frühes Leben, ihre Familie und ihren unerschütterlichen Glauben an die Kraft des Schönen und der Kreativität. Ihr persönliches Credo: "Farbe beeinflusst, wie wir denken, fühlen und die Welt sehen. Die Farben, die bei uns in Resonanz stehen, sind eine visuelle Darstellung unserer Persönlichkeiten". Und was soll man sagen, der Bildband löst dieses Versprechen ein. Die Seiten leuchten in Limettengrün, Kanariengelb und Rubinrot, denn: "Pastellfarben machen mich nervös", schreibt die Frau, die noch mit 97 Jahren zum gefragten IMG-Model wurde. 

Beraterin für das Weiße Haus 

Bevor sie in ihren späten Jahren Model und Mode-Influencerin wurde, hatte Apfel eine erfolgreiche Karriere in der Textilbranche. 1950 gründete sie mit ihrem Ehemann Carl die Firma Old World Weavers, ein internationales Unternehmen, das antike Stoffe aus dem 18. und 19. Jahrhundert aufarbeitete und reproduzierte. 

Nach dem Zweiten Weltkrieg waren Möbel und Stoffe knapp. Wenn Carl nicht das richtige Material für ein historisches Dekor finden konnte, adaptierte Iris das Design alter Stücke, die sie auf ihren Reisen in Antiquitätenläden oder auf Basaren gekauft hatte. Als Restaurierungsberaterin statteten sie sogar das Weiße Haus –  beauftragt von Harry Truman bis Bill Clinton – mit Stoffen dieser Art aus. Einige davon hängen heute noch im Präsidentensitz. Beispielhafte Muster lassen sich auch in dem Bildband finden. Sie reichen von Boho-Webstoffen bis zu samtenem Damast-Jacquard-Designs - und sind mindestens genauso farbenfroh wie die Autorin selbst. 

Iris und Carl Apfel, aus Iris' persönlichem Archiv
Foto: ©Iris Apfel

Iris und Carl Apfel, aus Iris' persönlichem Archiv 


Andere Seiten sind Apfels umfangreicher Schmuckkollektion gewidmet. Sie wurde nie ohne gesehen und trug an einem Armgelenk wahrscheinlich mehr Reifen als die meisten Menschen in ihrem ganzen Leben. So lautet ein weiteres Mantra von ihr: "Mehr ist mehr, aber weniger ist langweilig." 

Zu sehen sind eine Vielzahl von Perlen, schimmernden Korallenmuscheln und klobigen Armbroschen, die Apfel vom Handgelenk bis zum Ellbogen trug. Auch ihre scheinbar unendliche Sammlung an Brillen ist liebevoll kuratiert und mit amüsanten Geschichten zum Tragekomfort versehen. "Wenn ich schon eine Brille trage", schreibt Apfel lässig, "dann darf sie ruhig auffallen und die Menschen und mich zum Schmunzeln bringen".  

Ihr Ruhm kam erst mit 70 

Der große Erfolg kam im Jahr 2005. Eine Kostümausstellung im New York Metropolitan Museum of Art war in letzter Minute gescheitert, woraufhin eine befreundete Designerin Apfel fragte, ob sie bereit wäre, ihre eigene Garderobe zu zeigen. Die Ausstellung "Rara Avis" war ein sofortiger Hit, genauso wie sie selbst. 

Was die Menschen faszinierte, war ihre Originalität. "Wenn du dich nicht wie alle anderen kleidest, musst du nicht wie alle anderen denken", schreibt sie dazu. Die Ausstellung markierte einen Wendepunkt in ihrer Karriere und ermöglichte es ihr, sich als Supermodel, Muse und Mitarbeiterin bei zahlreichen weltbekannten Marken zu etablieren. Durchaus inspirierend in einer Welt, in der Frauen ab Mitte 30 oft als alt gelten und die Berufslaufbahn bis dahin gefestigt sein sollte. Apfels Rat: "Manchmal muss man auf den richtigen Moment ein wenig warten. Bei mir hat es 70 Jahre gedauert, bis ich 'über Nacht' berühmt wurde". 

Harpers Bazaar Russia, September 2010
Foto: © Christopher Sturman, Trunk Archive

Iris Apdel "Harpers Bazaar Russia", September 2010 


Neben Schnappschüssen enthält die Autobiografie bildliche Zeugnisse ihres Heiratsantrags, Urlaubsfotos von weit entfernten Orten sowie Hinweise auf viele ihrer Kooperationen mit Modemarken, darunter auch H&M. Dabei wirkt sie in ihren prächtigen Farben so lebendig, dass man beim Umblättern der letzten, rosa umrandeten Seite fast erwartet, eine Pop-up-Iris würde aus den Vorsatzblättern hervorbrechen, um noch ein Aperçu zu teilen. 

"Colorful" gibt einen Einblick in das Leben einer wissbegierigen und lebensbejahenden Frau. Anekdoten und Lebensweisheiten lassen einen schmunzeln und wecken den Glauben an die eigene Kreativität. "Denn man scheitert nur, wenn man es nicht versucht hat“, schreibt Apfel auf der letzten Seite.