Der japanische Künstler On Kawara (1932 - 2014) wollte sich stets vergewissern, dass er noch da ist. Und wo im endlosen Fluss der Zeit er sich gerade befand. 1966 begann er seine heute legendäre "Today"-Serie, für die er so oft wie möglich das aktuelle Datum auf eine einfarbig grundierte Leinwand malte. Einerseits ein formal knochentrockenes Konzeptkunst-Projekt im Stil der Zeitansage am Telefon, andererseits eine poetische Meditation und ein Manifest eines menschlichen Daseins zu einem bestimmten Moment.
Kawara fertigte bis zu seinem Tod über 3000 dieser Datumstafeln an. Weiße serifenlose Schrift auf grauem, rotem oder blauem Hintergrund. Wenn er ein Bild nicht bis Mitternacht des Produktionstages fertig bekam, zerstörte er es. Zu jedem Exemplar gehört ein Tageszeitungs-Ausriss aus der jeweiligen Stadt, in der sich der Künstler gerade befand. Doch wer nur die nackten Zahlen und Buchstaben auf der Leinwand sieht, erfährt nichts über die Ereignisse des fraglichen Tages (nur die Daten der Mondlandung 1969 haben ein größeres Format als alle anderen). Man weiß nur, dass diese Tage stattgefunden haben. Dass On Kawaras Kunst stattgefunden hat.
Ein Influencer für Selbstvergewisserung
Für Menschen, die während des Corona-Lockdown jegliches Gefühl für Daten und Wochentage verloren haben, könnte der stoische Künstler so etwas wie ein Schutzheiliger oder ein Influencer für Selbstvergewisserung werden. Soziologen, Geistliche und Psychologinnen betonen, dass Rituale im Ausnahmezustand helfen können, bei sich zu bleiben und Struktur ins Unbekannte zu bringen. Auch Kawara hielt sich während seiner künstlerischen Karriere, die ihn an verschiedene Orte auf der ganzen Welt führte, an strenge Ordnung.
In seiner Serie "I Got Up" schickte er zwischen 1968 und 1979 jeden Tag zwei Postkarten an Freunde oder Kollegen. Einziger Inhalt: die Absenderadresse (oft Hotels), die Adresse der Empfänger und der Satz "I Got Up At" mit der passenden Uhrzeit. Laut der einzelnen Karten war On Kawara ein flexibler Aufsteher. Die Uhrzeit kann 6.45 Uhr morgens oder 2.05 Uhr nachmittags betragen. Aber sie wurde stets akribisch archiviert. "I Got Up". Das ist schonmal ein nennenswertes Ergebnis eines Tages.
Ordnung gegen das Chaos der Welt
Ordnung in eine unordentliche Welt zu bringen ist ein Antrieb für viele künstlerische Projekte. So kann man Yayoi Kusamas systematische Verpunktung der Welt genauso wie die Raster der Op Art als Strategie gegen das Chaos der Wirklichkeit interpretieren. Gerade jetzt scheinen meditativ-verlässliche Tätigkeiten viele Menschen zu beruhigen (siehe die Flut von Puzzle-Erfolgsmeldungen in den sozialen Medien). On Kawaras Werk passt in diesen Tagen und Wochen besonders gut, weil er die persönlichen Erfahrungen eines Individuums dokumentiert und gleichzeitig zeigt, wie marginal und vergänglich diese einzelne Person im gnadenlosen Lauf der Zeit ist.
Bis das Telegramm ausstarb, schickte On Kawara auf diesem fernschriftlichen Weg immer wieder dieselbe Nachricht an Kuratoren und Sammler: "I am Still Alive" - Ich lebe noch. 2009 programmierte der isländische Digital-Künstler Pall Thayer (unautorisiert) einen Twitterbot unter dem Namen On Kawara, der jeden Tag um 10 Uhr morgens besagten Satz postete. "I am Still Alive": Eine Maschine, die sich ihrer eigenen Lebendigkeit versicherte. Gerade gehen verstärkt ähnliche Nachrichten aus der Quarantäne auf digitalen Kanälen zwischen Menschen hin und her. Wir mögen physisch getrennt sein - aber wir sind noch da. Auch das Tagebuch (analog und digital als Blog oder Video-Diary) bekommt als Orientierung in der globalen Ausnahmesituation eine neue Relevanz.
Sechs Jahre nach seinem Tod wirkt On Kawaras konzeptuelles Zeit-Einfangen ungemein aktuell. Jeder Tag, sei er zäh oder dramatisch, lässt sich beziffern, benennen, einordnen. Jeder Tag hat ein Datum. Diese Ordnung ist intakt. Auch, wenn es sich gerade ganz anders anfühlen mag.