Poesie ist, wenn das selbstfahrende Auto links blinkt und rechts abbiegt, wenn Alexa den Kindern empfiehlt, auch mal rauszugehen, und Facebook dem Dorfnazi Werbung für Burkini anzeigt. Oder wenn Wikipedia vor Unwissenheit stottert. "Die Band wurde im Jahr 1997 oder 1999 in Hamburg-Bergedorf gegründet", heißt es in ungewohnter Wurstigkeit im Eintrag des meistgenutzten Internet-Lexikons unter dem Stichwort "Deichkind". "Wikipedia ist sehr wirr, was uns angeht", sagt Rapper Porky, von dem auch ein falsches Porträtfoto auf der Plattform steht.
Kann passieren. Und ist ja auch ganz schön, denn die drei Mitglieder von Deichkind lieben ohnehin Maskierungen: Porky und Kryptik Joe treten fast nur in aufwendigen Kostümen auf, La Perla, der sich selbst als Regisseur der Band bezeichnet und diese Kostüme gemeinsam mit zwei Kostümbildnerinnen entwirft, so gut wie gar nicht. Im Moment sitzen sie eher casual gekleidet beim Pressetermin in Berlin, auf dem Tisch ein Haufen Bildbände. Die Schnitzer der Weltwissenmaschine Wikipedia passen natürlich gut zu dem Titel ihres neuen Albums "Wer sagt denn das?" und dem gleichnamigen Track: "Die Schilder, die Regeln, die Presse, der Blog / Die Päpste, die Jedi, die Hater, der Bot / Wetter.de und die Neue vom Chef / Sie hat's von Lena und die aus'm Netz."
Wer spricht? Wer besitzt überhaupt noch Autorität? Und was passiert, wenn es keine übergeordneten Instanzen mehr gibt? Kommt dann erst die Diskussion in Schwung oder spitzt sich dann jeder seinen eigene Verschwörungstheorien zurecht? "Wir sitzen nicht mehr vor dem Lagerfeuer 'Wetten, dass …' und am Montag hat dann jeder dasselbe erlebt. Das hat uns einmal Sicherheit gegeben, aber jetzt ist alles zerfleddert", sagt Kryptik Joe, Songwriter, Rapper und Performer der Band.
Licht und Schatten von Disruption
"Dieser Zerfall hat aber auch eine gewisse Erotik und die Frage 'Wer sagt denn das?' eine aphrodisierende Wirkung", gibt Porky zu bedenken. "Die eigenen Werte anzuzweifeln, muss nichts Negatives sein. Es wird alles neu sortiert." Eine neue Ordnung entsteht aus dem vermeintlichen Zerfall und der Vielfalt der Stimmen, aber wie die aussieht, sollten wir nicht aus den Augen verlieren, warnt La Perla: "Wir sprechen zu wenig über Algorithmen-Ethik und -Diversität. Im Moment programmieren weiße, gut gebildeten Männer die Algorithmen, die unsere Welt definieren."
Auf dem neuen Album geht es immer wieder um die neue digitale Welt: in "Dinge" um Objekte, die Menschen ersetzen und bald leitende Positionen übernehmen; "Endlich autonom" besingt in Kraftwerk-Mainier automatisiertes Fahren; "Powerbank" die Ermattung, die mit dem Akkustand des iPhones korreliert. Die Disruptionen des Digitalen faszinieren Deichkind wahrscheinlich allein schon deshalb, weil sie selbst disruptiv sind. So verbanden sie früh den am Ende der 90er-Jahren langsam vor sich hindümpelnden Deutschrap mit Electroclash, eine punkige Haltung mit ambitionierten Bühnenshows und politische Botschaften mit Sauf-Appellen.
Dabei sind Videos, Auftritte, Objekte und Kostüme entstanden, die eine Ambition verraten, die für die deutsche Musikindustrie ungewöhnlich ist. La Perla, der mit bürgerlichen Namen Henning Besser heißt und zur Band ursprünglich als DJ Phono hinzustieß, hat zum Interviewtermin zwei selbsthergestellte Collagen-Bücher mitgebracht, die als Moodbooks visuelle Inspirationen für die Bühnenshow und Kostüme darstellen: Installationsansichten von Kunstausstellungen, Entwürfe von Modedesignern, Trachten, Character Design, Internet-Quatsch. Nachdem Deichkind, wie wir es heute kennen, mit einem Müllsack aus Plastik als maximales Anti-Kostüm begann, geht es jetzt wieder in die Breite. Das Grunthema bleibt die Maskierung, um aus der Anonymität heraus Freiheit zu finden.
"Deichkind gehört in die Mehrzweckhalle"
In den ersten Videos zum Album musste hingegen das genaue Gegenteil des anonymen Versteckspielers ran: die Rampensau Lars Eidinger. In "Richtig gutes Zeug" spielt er Variationen des Konsumententypus "extensives Kaufverhalten": männliche Nerds und Genießer, die sich lange mit Produkten beschäftigen und gerne drüber reden. In "Keine Party" stampft er tanzend durch Berlin, in "Dinge" lässt er sich einen Kopfhören von einer Feuerwerksrakete vom Kopf ziehen.
Wenn die eigentlichen Körper der Deichkind-Mitglieder hinter Maskeraden zurückbleiben, rücken tatsächlich Dinge in den Vordergrund: Kostüme, Bühnenbilder, Requisiten. Wo ist eigentlich das riesige Bierfass von der letzten Tour, mit dem sich die Band vom Publikum hat tragen lassen? "Was in unserer Lagerhalle alles rumsteht! Man könnte daraus einen eigenen Freizeitpark machen", sagt Porky. Oder warum nicht eine Ausstellung? "In der Hochkultur kann man auch sicher besser altern als im Popzirkus. Aber ich bleibe lieber zwischen den Stühlen", sagt Kryptik Joe. Und selbst La Perla ist kaum zu begeistern: "Deichkind gehört in die Mehrzweckhalle. Ich bin ein leidenschaftlicher Beobachter der Kunstszene und weiß deshalb auch, wie hermetisch sie ist." Es sei eine elitäre Szene, die sich selbst in der Blase abfeiert, meint Porky. Und wenn die Band etwas hasst, dann doch Ausgrenzung.
Aber bitte, wer sagt denn das, dass die Kunstszene sich abschottet? Genug Ausstellungen von und über Popmusik-Acts haben gezeigt, dass die Überschreitung der vermeintlichen Grenzen gelingen kann: Kraftwerk spielt in Museen, Peaches stellt gerade im Kunstverein Hamburg aus, die Wanderausstellung zu David Bowie war ein großer Erfolg. "Die Performance-Künstlerin Alexandra Pirici hat mal gesagt, dass sie im zeitgenössischen Tanz gescheitert ist und mit ihrer Arbeit erst im White Cube Erfolg hatte", räumt schließlich auch La Perla ein. "Also wenn uns jemand fragt, nehmen wir die Herausforderung gerne an und bespielen den Deutschen Pavillon in Venedig. Ob wir bestehen können, möchte ich allerdings nicht garantieren." Doch, die Idee allein hat eine aphrodisierende Wirkung.