Vor einigen Tagen kam ein weiterer Strassstein an jenem Schriftzug hinzu, der das Hinterteil des Feuilletons ziert: "Juicy". Schauen wir uns das Ganze – selbst auf die Gefahr hin, geblendet zu werden – doch einmal genauer an: 2023 gewann Mohamed Mbougar Sarrs Roman "Die geheimste Erinnerung der Menschen" nach dem Prix Goncourt und weiteren Auszeichnungen auch den Internationalen Literaturpreis des Haus der Kulturen der Welt (HKW) in Berlin. Hinter den Kulissen aber gab es Streit. Rund ein Jahr später veröffentlichen Juliane L. (dichtende Kritikerin) und Ronya O. (kritische Dichterin) eine Art Gedächtnisprotokoll, wie man es gegen Stalker oder Polizisten einsetzt. Sie entführen uns in die Welt der Kulturelite. In Hinterzimmer, wo dunkle Mächte wirken. Wundersamerweise wurde auch O. und L. Eintritt in diese Sphäre gewährt. Nur dass die beiden, anders als ihre Mitjurorinnen, absolut unkorrumpierbar sind.
O. und L. kämpfen um die Literatur und nichts als sie. Entsteht Dichtung, wo Dichterinnen schreiben? Hier nicht. Denn hier wird nicht die Einzelne adressiert, sondern die revolutionäre Masse aller User. Und die Kommentarspalten werden ja bekanntlich auch nicht redigiert. Diese Zwei sprechen zu allen, und sie sprechen mit blutenden Herzen. Sie haben herausgefunden, dass hohle Anspruchshaltung waltet, wo einmal Demut herrschte, Demut vor dem Schreibhandwerk, dessen Beherrschung die Autorinnen in ihrem als Scoop getarnten Manifest leider selbst nicht demonstrieren. Enis M. nahm sich trotzdem die Zeit.
Was war also geschehen? Eine – obschon namenlose – leicht identifizierbare Jurorin soll einer weißen Autorin die Stimme entzogen haben, um sie einer schlechteren, dafür aber Schwarzen zu geben. Diese Jurorin habe explizit das Primat des Politischen über das Literarische gestellt und somit die Preiskriterien unterlaufen. Die ihr zugeschriebenen Zitate kommen arg holperig daher. Ob sie wirklich gefallen sind, müssten andere ermitteln, etwa die Redaktion der "Zeit", die allerdings darauf verzichtet hat. Schließlich handelt es sich hier nicht um Journalismus (der das geböte), sondern um Feuilleton, und zwar von der Retro-Sorte: Throwback ins Internet der Zehnerjahre, als das entstand, was man zuerst "Call-out-Culture" nannte. Der Beginn der Empörungsökonomie. Duelle um moralische Überlegenheit.
Der Gegenstand hätte eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient
Diese Denkschule, deren Auswüchse die Autorinnen abzulehnen vorgeben, ist ihrem Text fest eingeschrieben. Hier soll sich bestätigt finden, wer es sowieso schon immer wusste. Dabei hätte der Gegenstand eine ernsthafte Auseinandersetzung verdient. Nur geht es hier um etwas anderes. Die verwendeten Schlagwörter lassen jede studentische Suchmaschinenoptimierungsfachkraft vor Neid erblassen: Von Zivilisiertheit ist die Rede, vom "komische[n] Beigeschmack", vom "Einzelfall", der diese Begebenheit gerade nicht sei, und, natürlich, von "Moral".
Dass sich eine Verfasserin ungelenker Verse für die Dichtung einsetzt, dass sich eine unermüdliche Produzentin politischer Kolumnen gegen die Infiltration der Künste durchs Politische in Stellung bringt: schöne Ironie.
Aber ok – wenn sie denn so gefallen sind: Sind die Aussagen, die der nämlichen Jurorin sowie einer zweiten Person zugeschrieben werden, dumm? Auf jeden Fall. Die Überzeugung einiger weißer Männer, es sei doch mehr als genug, eben das zu sein, was sie sind, wird in diesem Denken durch die Annahme ersetzt, durch bloße Existenz "Diversity" zu evozieren, reiche doch genauso.
Das sind die ängstlichen Standpunkte des Mittelmaßes, zu dem per Definition viele gehören, obwohl keine, und erst recht keine Schreibende, sich ihm zugehörig fühlt. Eine der alltäglichen Paradoxien des Daseins. Nicht minder paradox: dass auch O. von Anfang an ihre Identität zu Markte trug. Naja – vielleicht wirds jetzt Zeit für was Neues?
Perfideste Methoden aus Liebe zur Sache
Zurück zum Thema: O. und L. erreichen nach einem Gespräch mit der HKW-Intendanz die Erweiterung der Shortlist um die Namen, die ihnen fehlten: Mariette Navarro und Péter Nádas. Wobei, was heißt erreichen – es ist von keinem Widerstand die Rede. Wohl aber, dass man sie auf Antwort warten ließ. Wie lang genau? Wer weiß.
O. suggeriert, dass es ihre würzige "FAZ"-Kolumne vom 16. Juli 2023 war, die das HKW zur Reaktion zwang. Darin ist zu lesen: "Allgemein ist man ziemlich ratlos und merkt, wie sich dieses Sprecher-Positionen-Betroffenheitsding gegen und für einen dreht und wendet, je nachdem, wie der Wind gerade geht." Gesprochen wie eine Jugendliche in der Krise: Bin ich deutsch oder nicht? Bin ich du oder ich? Gesellschaftliche Verhältnisse sind also nicht statisch. Soso. Fair auch nicht? Es wird immer doller. Man möchte der Autorin zur Vertiefung mit Enzensbergers "Theorie des Verrats" gerne das Werk eines weißen Mannes empfehlen.
Wer einmal in einer Jury saß, weiß: Aus Liebe zur Sache werden perfideste Methoden eingesetzt, derer sich andere Juroren wiederum widersetzen, nicht zuletzt ihrer eigenen Lieblinge wegen. Auch O. ist jedes Mittel recht, um von Nádas’ Werk zu überzeugen. Und so breitet sie genüsslich dessen Unterdrückungsattribute aus. Erst in der Sitzung, und dann, ein zweites Mal, im Text. Hat der große Erzähler das Mitgefühl der O. denn nötig? Aber keine Sorge! Sie wollte nicht! Sie "fühlte sich gezwungen". Durch wen? Warum? Das bleibt geheim. Geht es hier am Ende etwa – kreisch – um vibes only?
Die vernünftige Mehrheit?
Mit Nádas’ nachträglicher Nominierung für die Shortlist wäre die objektive Wahrheit, deren Hüterinnen O. und L. sind, also fast wiederhergestellt gewesen. Nur gewann dann doch Mohamed Mbougar Sarr, der, wie die beiden schildern, von Anfang Favorit der gesamten Jury war. Fast so, als entschiede die Mehrheit, wer gewinnt.
Wieso all das erst jetzt? Ist es wirklich die Enttäuschung über die ausgebliebene Juryeinladung 2024? Halten sich nach Björn Höcke nun auch O. und L. für Wiedergängerinnen Julian Assanges? Aus ihrem Text spricht zumindest eins: der unerschütterliche Glaube, unter ominösen, irgendwie ausländischen Kultureliten die vernünftige Minderheit darzustellen, die Mutigen, die jede Wahrheit braucht, um ausgesprochen zu werden, besonders die mehrheitsfähige.