Ist die Freiheit der Kunst in Gefahr? Die Frage kann angesichts der neuen Politisierung der Kunst offenbar nicht genug diskutiert werden. So setzte sich auch "Die Zeit" gerade wieder mit dem neuen Aktionismus in der Kunstwelt auseinander. Der sei gerade nicht neu, sondern jahrzehntealt, so der Autor Hanno Rauterberg: "Schon vor 50 Jahren beklagten Künstler wie Hans Haacke den Einfluss dubioser Sponsoren auf die Museen und riefen dazu auf, sich gegen das schmutzige Geld zu wehren." Geändert habe sich hingegen das Verhalten der Institutionen. "Noch vor wenigen Jahren wäre den Museen klar gewesen, welche Rolle sie in solchen Konflikten zu spielen haben: Sie hätten die Freiheit der Kunst gegen alle Proteste verteidigt", schreibt Rauterberg. "Erst heute, in Zeiten der cancel culture, sinkt die Bereitschaft vieler Ausstellungshäuser, sich gegen das demokratische Verlangen nach Einspruch zu wehren."
Die Sorge um die Freiheit der Kunst wird zur Zeit auch von so unterschiedlichen Künstlern wie Georg Baselitz, Ai Weiwei oder Neo Rauch geäußert, die mangelnde Debattenräume beklagen oder sich als Opfer eines "links-liberalen Mainstream" stilisieren – obwohl sie weiterhin auf Biennalen und in großen Museen zu sehen sind, obwohl sie staatliche Ehrungen und Höchstpreise am Markt einfahren. Doch auch jenseits dieser Kunststars herrscht ein diffuses Bedrohungsgefühl: Aktivisten verpassten den Künstlern Mal- und Maulkörbe, heißt es, die "political correctness" begrabe die Kunstautonomie.
Gute alte Zeiten?
Dieses Sentiment bedient auch Rauterberg, wobei er schon in der Einleitung seines Essays falsch liegt: Es ist einigermaßen abstrus, ausgerechnet Hans Haacke als Beispiel anzuführen. Haacke wollte 1971 in seiner ersten großen Einzelausstellung im Guggenheim Museum eine Installation zeigen, die den mafiösen Machenschaften New Yorker Immobilienspekulanten nachging. Doch weil er damit offenbar einige Vorstandsmitglieder des Museums verärgerte, ließ der Direktor des Museums, Thomas Messer, die Schau nur sechs Wochen vor der Eröffnung platzen und feuerte zudem den zuständigen Kurator.
Das Museum hat hier wohl kaum, wie der "Zeit"-Kritiker behauptet, "die Freiheit der Kunst gegen alle Proteste verteidigt". Genauso wenig wie drei Jahre später das Wallraf-Richartz-Museum in Köln. Dort hatte Haacke für eine Gruppenausstellung zum Jubiläum des Hauses recherchiert, wie der Bankier und Kuratoriumsvorsitzende Hermann Josef Abs mit dem NS-Regime kollaboriert hatte – und auch hier wurde er kurzfristig ausgeladen. Als Daniel Buren aus Solidarität mit Haacke daraufhin Teile von dessen Arbeit in seinen eigenen Ausstellungsbeitrag integrieren wollte, wurden sie auf Anweisung des Generaldirektors der Kölner Museen überklebt. Gute alte Zeiten?
So wenig Grund für Nostalgie besteht, so sehr scheint sich in unserer Gesellschaft auch jenseits der Kunstwelt der Eindruck einer neuen Unfreiheit auszubreiten. Als Beispiel wurde zuletzt immer wieder angeführt, dass die Antifa eine Vorlesung des ehemaligen AfD-Vorsitzenden Bernd Lucke an der Uni Hamburg verhinderte. Oder dass beim Göttinger Literaturherbst eine Lesung des früheren Innenministers Thomas de Maizière abgesagt wurde, nachdem Aktivisten den Eingang blockiert hatten. Ebenfalls in der "Zeit" wurde dazu unlängst eine Umfrage des Allensbach-Instituts herangezogen, der zufolge 63 Prozent der Deutschen meinen, man müsse heute "sehr aufpassen", zu welchen Themen man sich äußert.
"Selbsthysterisierung einer Gesellschaft"
Die Bedeutung der Studie wird in einer Reportage in der "Süddeutschen Zeitung" vom vergangenen Montag hinterfragt. Der Autor Boris Herrmann weist daraufhin hin, dass momentan sehr viele Meinungsmacher von "Zeit" über "FAZ" bis zur "Welt" ununterbrochen meinen, man könne seine Meinung nicht mehr sagen – hier also offenbar ein performativer Selbstwiderspruch vorliege. Und er erinnert daran, dass besagte Studie schon fünf Monate alt sei und die "Zeit" deren Aussagekraft in ihrer Onlineausgabe damals stark angezweifelt habe, ehe sie sie jetzt zur Titelgeschichte hochjazzte. Die Validität der Studie hinterfragt in dem "SZ"-Artikel auch der Politikwissenschaftler Herfried Münkler und spricht von der "Selbsthysterisierung einer Gesellschaft": Aus einzelnen Vorkommnisse werden Muster konstruiert, die eine gefährliche Entwicklung belegen sollen.
Um zurück zur Kunst zu kommen: Tatsächlich hat es Fälle gegeben, in denen Ausstellungen nach Protesten abgesagt wurden. Das Guggenheim in New York entfernte eine Videoarbeit über Hundekämpfe der Künstler Peng Yu und Sun Yuan aus einer Ausstellung, nachdem sich Hundertausende in einer Online-Petition über die Grausamkeit der Bilder beschwert hatten. Und in London wurde ein Werk des Künstlers SKU, das islamische Zitaten mit dem Bild einer nackten Frau kombinierte, mit grauen Tüchern bedeckt, weil sich Besucher über Blasphemie beschwert hatten.
Rauterberg zieht diese Einzelfälle in seinem Text heran, um auf Grundsätzliches zu kommen – das macht schon die Überschrift "Der Teufelskreis demokratischer Kunst" klar. Seiner Argumentation zufolge sind "Demokratisierung" und die "Freiheit der Kunst" unvereinbare Werte. Die Öffnung der Museen sei zwar überfällig, doch wenn sich in ihnen "alle Besucher, egal welchen Geschlechts, welcher Hautfarbe oder Herkunft" wiederfinden sollen, geraten die Museen "unweigerlich" in ein Dilemma. "Sie müssen feststellen, dass die erwünschte Relativierung des Kanons einen unangenehmen Nebeneffekt hat: Auch die moderne Idee einer freien, radikalen, provokativen Kunst wird relativ."
Aber warum sollte eine Relativierung dieses Kanons der Idee einer freien Kunst entgegenstehen? Haben nicht gerade aus dem Kanon ausgeschlossene Künstler die freisten, radikalsten Werke geschaffen? Sind Demokratie und die Autonomie der Kunst wirklich Feinde – oder sind sie nicht schon historisch betrachtet eher Geschwister? Und waren nicht etwa auch Hans Haacke von einer kleinen machtvollen Elite gecancelte Ausstellungen ganz hervorragende Beispiele für radikale, provokative Kunst?
Die "Autonomie der Kunst" ist keine ästhetische Kategorie
Rauterberg hat ein Gegenbeispiel, um zu belegen, dass heute "die Freiheit der Kunst, die immer auch die Freiheit des Skandalösen und Missverständlichen war, fast unweigerlich in Gefahr" gerate und es immer schwieriger werde, die Autonomie der Kunst als Eigenwert zu verteidigen. "Eine solche Verteidigung müsste ja nicht primär ethisch, sondern vor allem ästhetisch begründet werden", schreibt Rauterberg. "Wäre es anders, ließe sich kaum glaubhaft darlegen, dass auch Gewalttäter wie Caravaggio großartige Künstler sein können, die im Museum ihren Raum finden sollten. Oder dass der künstlerische Wert eines Gemäldes nichts mit der Hautfarbe, dem Geschlecht oder der Herkunft des Malers zu tun haben muss."
Vielleicht hat die "Zeit" diesbezüglich genauere Informationen – aber unseres Wissens nach ist es nicht eben so, dass sie bei Uffizien oder im Kunsthistorischen Museum in Wien gerade ihre Caravaggios entsorgen. Und was den Zusammenhang von künstlerischer Qualität und Identität betrifft: Wie lässt sich begründen, dass die in der Vergangenheit angeblich so wunderbar blühende "Freiheit der Kunst" einen Kanon hervorgebracht hat, der fast ausschließlich aus weißen, aus dem Westen stammenden Männern besteht? Gibt es dafür eine ethische Erklärung? Oder eine ästhetische?
Im Übrigen irrt Rauterberg auch hierin: Die "Autonomie der Kunst", die wir tatsächlich unbedingt verteidigen sollten, ist eben keine ästhetische Kategorie (so wenig wie die Meinungsfreiheit eine rhetorische Kategorie ist), sondern ein ethischer Wert. Sie ist Ergebnis einer gesellschaftlichen Übereinkunft, ein Ideal, das ausgehandelt und immer wieder auf seine Kriterien und Gültigkeit hin überprüft werden muss. Genau dies geschieht gerade, genau dies das macht die zeitgenössische Kunstwelt so spannend, und wer sich darauf einlässt, kommt ganz gut ohne den Kick der Selbsthysterisierung aus.