Das M hat Konjunktur. Gerade wird Fritz Langs Klassiker "M – eine Stadt sucht einen Mörder" als Serie wiedergeboren. Und auch auf dem Roman "M" der Berlinerinnen Marlene Stark und Anna Gien prangt der zackige Buchstabe – diesmal ohne Mörder. Sterben muss auf den 247 Seiten niemand, aber der Untertitel lässt sich zu "eine Stadt sucht etwas mit sich anzufangen" umändern.
Im Buch, das von der unprüden "taz" pornografisch genannt wurde, ist M das Initial der Ich-Erzählerin. Schon die Bezeichnungen der Figuren muten wie die Truppenaufstellung für einen Geschlechterkampf an. Die Protagonistinnen tragen geheimbündlerisch nur ihre Anfangsbuchstaben, während Männer ihren vollen Namen aufgebürdet bekommen. Obwohl das Buch in einem sehr spezifischen wohlstandsverwahrlosten Berliner Milieu angesiedelt ist, sind die Initialien wie Platzhalter für aufgeklärte junge Frauen angelegt, die hyperreflektiert und pornosozialisiert ihr prekäres Dasein in Clubs und Galerien fristen.
Die Konstellation "Städterin mit Wurzeln in der gutbürgerlichen Provinz durchschaut die Oberflächlichkeit der Kunstszene" ist inzwischen zum eigenen Literaturgenre geworden. Anna Gien, unter anderem Monopol-Kolumnistin, und Marlene Stark schälen aus der Champagner- und koksgesättigten Perspektivlosigkeit jedoch einen Ermächtigungsraubzug hervor. M hat praktisch ununterbrochen Sex mit Männern, die sie okay bis lächerlich findet. Sie penetriert einen Galeristen mit einem Silikonpenis (das Spekulieren über reale Vorbilder kann beginnen) und lässt sich als Escort-Girl nach Tel Aviv fliegen.
Die Rolle der Frau als Sex-Accessoire in der Kunstwelt ist hinreichend beschrieben und weitgehend uninteressant, aber die Autorinnen kehren diese bekannten Konstellationen um, weil M kein Accessoire ist, sondern sie selbst die Männer als austauschbares Halskettchen trägt. Ms Macht ist ihr Sex, mit dem sie ihr Umfeld orchestriert. Die drastische Sprache des Romans lehrt jedem verdrucksten Liebesroman das Fürchten und beschreibt süffisant und unterhaltsam präzise die Luftnummern der Kunstwelt. Die zwischen den Zeilen wabernde Frage, ob das Nachahmen von inzwischen weitgehend geächtetem Macho-Verhalten tatsächlich als Emanzipationsstrategie taugt, bleibt jedoch unbeantwortet.
In der Post-#Metoo-Debatte wurde immer wieder darauf hingewiesen, dass es überfällig ist, der weiblichen Lust mehr Kunstdenkmäler zu setzen. Auch "M" wurde in diesem Zusammenhang genannt. Aber bei "M" hat Lust keinen Platz, weil jede Regung sofort reflektiert und als Pose entlarvt wird. Insofern ist "M" ein Post-Lust-Manifest. Sehnsucht ist Retro und riecht nach kitschigem Italienurlaub. In Berlin herrscht Kälte, die beim Lesen in die Glieder kriecht.