Jahresrückblick

Das Kino sucht neue Wege

Lupita Nyong'o, Vorsitzende der Internationalen Jury der Berlinale 2024, überreicht Regisseurin Mati Diop den Goldenen Bären in der Kategorie Bester Film für "Dahomey"
Foto: dpa

Lupita Nyong'o, Vorsitzende der Internationalen Jury der Berlinale 2024, überreicht Regisseurin Mati Diop den Goldenen Bären in der Kategorie Bester Film für "Dahomey"

Die Verblockbusterisierung von Arthouse-Film, das Kino auf neuen Wegen und quo vadis, Berlinale? Wir blicken zurück auf das Kinojahr 2024

Allem Anfang wohnt ein Zauber inne, hoffentlich auch für die Berlinale, die vom nächsten Jahr an von der US-Amerikanerin Tricia Tuttle geleitet wird. Nach nur fünf Festival-Ausgaben war im vergangenen Februar Schluss für die Doppelspitze Mariette Rissenbeek (Geschäftsführung) und Carlo Chatrian (künstlerische Leitung). Der italienische Cineast hätte nach Rissenbeeks lange angekündigtem Rückzug zwar gerne weitergemacht, aber eine Gesamtverantwortung kam für ihn nicht in Frage.

Als die von Kulturstaatsministerin Claudia Roth geführte Findungskommission im September 2023 entschied, dass die Filmfestspiele wie in der Ära Kosslick wieder solistisch geleitet würden, war das eine klare Absage an Carlo Chatrian. 200 Filmschaffende, darunter Martin Scorsese, reagierten mit einem offenen Brief, in dem das "unprofessionelle" Verhalten Roths angeprangert und Chatrian für seine starken Festivalprogramme gelobt wurde.

Nicht zuletzt wegen der aus Kostengründen eingesparten Sektionen Perspektive Deutsches Kino und Berlinale Series und einer durchwachsenen Filmauswahl im Wettbewerb (beides kann man Chatrian schwerlich anlasten) ging diese Berlinale vergleichsweise schwach durchs Ziel. Immerhin blieb das Großevent Publikumsliebling vor den anderen beiden A-Festivals Cannes und Venedig. Im Februar wurden rund 320000 Tickets verkauft, was nahezu dem Niveau vor der Covid-Pandemie, also den Zahlen im Jahr 2020 entsprach.

"No Other Land" mit Triggerwarnung

Es waren weniger künstlerische denn politische Vorkommnisse, die den 74. Filmfestspielen in Berlin zusetzten. Es begann mit der von vielen Kunstschaffenden kritisierten Einladung von AfD-Mitgliedern zur Eröffnung - und einer schriftlichen Ausladung, zu der sich die Berlinale-Leitung eine Woche vor Festivalbeginn nach "intensiver Diskussion" entschlossen hatte.

Höhere Wellen schlugen allerdings die umstrittenen Äußerungen zum Krieg in Israel und Gaza während der Preisverleihung am 24. Februar. Der mit dem Berlinale Dokumentarfilmpreis ausgezeichnete "No Other Land" wurde zum Anlass zu scharfer Israelkritik insbesondere von Filmschaffenden auf der Bühne – einschließlich der Co-Regisseure Basel Andra und Yuval Abraham. Der Terrorangriff der Hamas auf Israel vom 7. Oktober 2023 fand dagegen keine Erwähnung, ebensowenig wurde die Freilassung der israelischen Geiseln gefordert. Begriffe wie "Apartheidsregime" und "Genozid" fielen und wurden von Teilen des Publikums mit Applaus quittiert. Mati Diop, mit ihrem Dokumentarfilm "Dahomey" Gewinnerin des Goldenen Bären, sprach am Ende ihrer Dankesrede davon, "in Solidarität mit Palästina" zu stehen. Felix Klein, der Antisemitismusbeauftragte der Bundesregierung, kritisierte an diesem Abend gefallene Aussagen als "nicht akzeptabe". Als "antiisraelisch" und "einseitig" schätzte Meron Mendel, Direktor der Bildungsstätte Anne Frank, das Gesagte ein, antisemitisch motiviert seien die Statements aber nicht.

Seit Mitte November läuft "No Other Land" in den Berliner Kinos, davor hat die Yorck-Kinogruppe eine Triggerwarnung gesetzt, die weder mit dem Regieteam noch mit dem Verleih ImmerGuteFilme in Wuppertal abgesprochen wurde. Darin heißt es, dass der "wachsende Antisemitismus in unserer Stadt" das Unternehmen mit "großer Sorge" erfülle und: "Gemeinsam tragen wir Verantwortung, dass Kritik an der israelischen Regierung und ihren Institutionen niemals zu Feindseligkeit in Wort oder Tat gegen Jüdinnen und Juden führt".

Ob es Berlin passt oder nicht: Sein Flagschiff Berlinale bleibt das "politischste" unter den A-Festivals. Wobei das Attribut bisher meistens auf die Filme zutraf und weniger für die Veranstaltungen drumherum. 

Farbenspiele in Cannes 

In Cannes ging es diesen Mai auf jeden Fall friedlicher zu als in der deutschen Hauptstadt. Obwohl es den französischen Veranstaltern nicht ganz gelang, die Politik aus dem Festival herauszuhalten. So trat Cate Blanchett (ihre Filmkomödie "Rumours" lief außer Konkurrenz) in einem schwarzen Kleid mit weißer Rückenpartie und grünem Innenfutter auf. In Kombination mit dem roten Teppich wurden die Farben als die der palästinensischen Flagge identifiziert. Konnte das mutmaßlich "politische" Farbenspiel reiner Zufall sein, wo sich Blanchett doch früh für einen Waffenstillstand im Gaza-Krieg ausgesprochen hatte?

Wie auch immer: Die Filme waren an der Croisette das Ereignis, und einige von ihnen sind inzwischen schon im Kino um die Ecke angelaufen. Francis Ford Coppolas Alterswerk "Megalopolis" bekam aber schon in Cannes – leider zu recht – schlechte Kritiken. Coralie Fargeats Horrorfilm "The Substance" ergatterte den Drehbuchpreis und erwies sich beim Kinostart auch wegen der Hauptdarstellerin Demi Moore als eindrucksvolles Genrewerk.

Jaques Audiards "Emilia Pérez" bekam zwei Cannes-Trophäen und wurde inzwischen ebenso zum Publikumserfolg wie der Gewinner der Goldenen Palme: Sean Bakers "Anora" erzählt vom Daseinskampf einer Sexarbeiterin, die mit einem russischen Oligarchensohn anbandelt. Es beginnt wie "Pretty Woman", mutiert zur wilden Komödie und zählt laut der "FAZ"-Kritikerin Maria Wiesner zum "interessantesten politischen Statement des Festivals".

"Das Kino ist in großartiger Form"

"Das Kino ist in großartiger Form", verkündete Jury-Präsidentin Isabelle Huppert im September bei der Preisverleihung der Venedig-Filmfestspiele. Und sie hatte hinsichtlich der Filmauswahl nicht unrecht, obgleich man über den Goldenen Löwen für Pedro Almodóvars stilistisch altersmildes, als Sterbehilfe-Verherrlichung unangenehmes Werk "The Room Next Door" lange streiten kann. Nichts zu monieren gibt es an den Preisen für Brady Corbet (Beste Regie – "The Brutalist") und Dea Kulumbegaschwili ("April" wurde der Spezialpreis der Jury zugesprochen). Beide Filme sind großartig und laufen Ende Januar 2025 in unseren Kinos an.

Der mit dem Drehbuchpreis der Hauptjury ausgezeichnete "I'm Still Here" des brasilianischen Regisseurs Walter Salles hat seinen Starttermin am 13. März. Hauptsächlich in der Zeit der Militärdiktatur in Brasilien angesiedelt, erzählt das Drama die wahre Geschichte der Familie des Politikers Rubens Paiva in Rio de Janeiro, der wegen seines Einsatzes für die Menschenrechte in den Kerkern der Staatsgewalt verschwindet. Grandios Fernanda Torres als Politikergattin Eunice Paiva, die sich von der eher unpolitischen Ehefrau zur Aktivistin und Anwältin entwickelt.

Vieler dieser Filme, die auf den drei A-Festivals laufen, sehen noch immer aus wie Arthouse-Kino, nähern sich aber in ihren Mitteln Studioproduktionen aus Hollywood an. Vielleicht war dies der prägendste Trend des Jahres: die Verblockbusterisierung des europäischen Independent-Films. Almodóvar dreht zum ersten Mal in seinem über 55 Jahre umfassenden Schaffen in englischer Sprache, Giorgos Lanthimos hat für "Poor Things" und "Kinds of Kindness", seinen beiden Filmen, die 2024 in den deutschen Kinos zu sehen waren, Marketingmittel und Hollywoodstars zur Verfügung, von denen jeder Autorenfilmer träumen mag, und Audiard lässt "Emilia Pérez" von dem solventen Modehaus Saint Laurent koproduzieren und dreht den in Mexiko spielenden Film komplett im Pariser Studio.

Ungewöhnliche Produktionsmittel und disruptiver Vertrieb

Überhaupt ist es das Jahr der ungewöhnlichen Produktionsmittel-Beschaffung und des disruptiven Vertriebs. Der Videokünstler und Regisseur Steve McQueen hat die Vertriebsrechte an seinem jüngsten Film "Blitz" in einem Bieterwettstreit an Apple Original Films vergeben. Die Streamingplattformen haben die Unterstützung anspruchsvoller Filme noch nicht ganz aufgegeben. Bei Netflix allerdings, wo man einst so großartige Filme wie "Roma" und "Marriage Story" produziert hat, ist dieser Wille kaum mehr zu erkennen. Dort hat man die Filmkunst offenbar ganz Mubi überlassen und konzentriert sich weitgehend auf Unterhaltungsfernsehen. 

Vielleicht haben die meisten Streamingplattformen angesichts des Überangebotes auf dem Mark einfach auch die Lust an den eigenen Inhalten verloren – wie ein Teil seines Publikums. Denn wer kennt es nicht: Es ist Sonntagabend, man ist fest entschlossen, einen Film zu schauen – doch die Auswahl ist einfach erschlagend. So vieles auf den brav abonnierten Streamingplattformen und in öffentlich-rechtlichen Mediatheken könnte man anschauen, alles ist sicher ganz toll gemacht, aber warum sollte man diesen einen Film, diese eine Serie starten? 17.000 Einsendungen musste das Sundance -Filmfestival für seine kommende Ausgabe im Januar sichten - Rekord! Dabei hat das Zeitalter der künstlichen Intelligenz, die Film und Kino revolutionieren wird, noch nicht einmal angefangen. Die größte Gefahr für das Kino ist vielleicht ausgerechnet die Fülle an Filmen. Wer hätte das je für möglich gehalten?