Rechtsruck im Kunstbetrieb

Das Bridgerton-Problem

Luke Newton (l) als Colin Bridgerton und Nicola Coughlan als Penelope Featherington in der ersten Folge der dritten Staffel von "Bridgerton", die gerade bei Netflix angelaufen ist
Foto: Cr. Liam Daniel/Netflix © 2024/dpa

"Es ist jetzt für alle ok, reich, tolerant und ignorant zu sein": Luke Newton (l) als Colin Bridgerton und Nicola Coughlan als Penelope Featherington in der ersten Folge der dritten Staffel von "Bridgerton", die gerade bei Netflix angelaufen ist

Wenn die extreme Rechte demnächst an die Macht kommen sollte, muss sie im Mainstream-Kunstbetrieb keine Brandmauern mehr einreißen – weil der das gerade mit halbherziger Performativität, Personal Branding und kapitalistischer Folklore schon selbst erledigt

Vor vielen Monaten, als die AfD-Pläne für die Massendeportationen noch nicht publik waren, hatte ich eine Begegnung. Ich war mit meinem Freund im Dorfgasthaus. Ich stand gerade am Tresen, um zu zahlen. Da rief ein mittelalter Mann, mit blonder, ausrasierter Frisur, jemand aus dem Nachbarort, der alleine dasaß: "Die parlamentarische Demokratie ist eine Gefahr!" Dieser kurze, etwas steife Satz entfuhr ihm wie ein Furz. Ich drehte mich um und fragte ihn in Gutsherrenmanier: "Was haben Sie da gerade gesagt?" Er wiederholte seinen Ausruf. Ich sah ihn an und fragte: "Na, was ist denn dann die Alternative zur Demokratie?"

Er, der Kleinunternehmer, druckste rum. "Ja, die Ampel ruiniert die Wirtschaft, die Grünen treiben uns in die Pleite." "Wollen Sie lieber", fragte ich und holte das T-Wort raus, "ein bisschen Totalitarismus? AfD, oder?" Er wisse das noch nicht, antwortete er, ein bisschen verworfen grinsend, als hätte er da ein süßes Lingerie-Geheimnis. Mit der AfD sei es wie mit "Cheri Cheri Lady" von Modern Talking. Niemand hätte damals zugegeben, den Song gut zu finden, aber alle hätten die CD gekauft. Eine Steilvorlage für mich: "Wegen Leuten wie Ihnen musste ich jahrelang diesen Horrorsong ertragen. Und jetzt auch noch 30 Prozent für eine Nazipartei." Er erwiderte, es sei doch gar nicht gesagt, dass die AfD eine Nazipartei sei. Ich legte mal einen Zahn zu. Er könne doch ruhig zugeben, wenn er Nazi sei, immer dieses Rumdrucksen und Ausweichen, brummte ich und beugte mich vor. Da wisse man doch wenigstens, mit wem man spricht. Es entwickelte sich dann eine Art Ping-Pong-Gespräch, das eigentlich kein Gespräch war, sondern eine Performance.

Alle im Gasthof kannten sie, diese ins Nichts führenden Diskussionen, in die Leute verwickelt werden, diese Meinungen, die ausgelegt werden wie Köder. Sie kannten auch bereits zu Genüge Leute wie mich, die auf diese rechte Stammtisch-Suppe anspringen und ebenso halbherzig Lindner, Scholz, Habeck verteidigen, die sie aus ganz anderen Gründen nicht wählen wollen. Diese Scheindebatten werden millionenfach geführt. Jeder kennt dieses unbestimmte Gefühl, irgendwas zwischen Belustigung, Wut und Frustration. Etwas Aufregendes, zugleich Weinerliches, fast Hormonelles, das man riechen kann wie den Schweiß von Pubertierenden in einer Umkleidekabine.

Ich bin schuld, du bist schuld

Die jeweilige, meistens nicht so politisch fundierte Gesinnung wird dabei diskutiert, als ob die Geduld der Mutter jetzt mal überstrapaziert ist oder man in einer Nachmittags-Talkshow sitzt, in der über Ehebruch, Shopping-Sucht oder narzisstische Partner gestritten wird. Man hat für alles Verständnis, aber das geht jetzt mal zu weit. Gesinnungen werden wie ein Charakterfehler behandelt. Ein Fehler, den man ausbügeln könnte, würde das Gegenüber sich nur Mühe genug geben, die Realität zu sehen oder vielleicht eine Therapie zu machen. Aber es macht ja keinen Sinn. Das Leben ist so, die Menschen sind so. Ach, die Marlies ist geschiedene Alkoholikerin, die wird eben ausfallend. Walter grapscht manchmal Frauen an, ist aber ein super Tischler. Der Herbert ist ein bisschen braun, aber eigentlich ganz nett, der ist doch gar kein richtiger Nazi.

Meistens reden wir theatralisch miteinander, wie von einem sicheren Ufer, von der richtigen Seite des sicheren Ufers – als stünde da ein Wahrheitsplateau, von dem aus wir den Wahnsinn und die Unvernunft der anderen sehen. Um mit den Lyrics der "Tödlichen Doris" zu sprechen: Ich bin schuld, du bist schuld, das ist die Schuldstruktur!

Mensch, Herbert, nur weil du arm bist, musst du doch nicht Nazi sein? Marlies, trink doch einfach mal nichts. Soll ich deine Schwägerin anrufen? Mensch, Ollie, du isst doch auch Wurst, und liegen da nicht ständig Amazon-Pakete vor der Tür? Warum nimmst du nicht endlich eine syrische Familie auf? Mach doch mal mit deinen woken Genossen CSD in Gaza! Hey, das ist ein Genozid und ihr macht hier einen auf Kultur und Poesie, in dieser zionistischen Nazi-Deutschland-Bude!

Solche Sachen ruft man schon mal schnell vom Hochsitz runter, eben auch: "Geben Sie doch einfach zu, dass Sie Nazi sind." Wenn alles so persönlich ist, vergisst man, die eigene Situation zu überdenken, zu fragen, aus welcher Warte, aus welcher Zone man da eigentlich gerade spricht, welche Wahrheit oder welche Story, welches Interesse es gegen wen zu verteidigen gilt. Das Systemische wird ignoriert, zu umständlich, zu langwierig, darauf einzugehen, auf die komplexen Gründe und Vorgeschichten für diese Begegnungen. Leute wie ich beklagen dabei die Herzlosigkeit und den Egoismus der Rechten, der Bauern, der Prolls, denen nur ihre eigenen Bedürfnisse und Freiheiten wichtig sind. Zwar sehen wir uns selbst ein klein bisschen als Teil des Problems, aber dennoch sind wir mitfühlender, menschlicher, auf gute Weise distanziert. Und klar leben wir trotz aller Beteuerungen nicht wirklich auf derselben Landkarte wie Marlies, Walter, Herbert.

Das Völkische ist schon lange drin

Ja, wo leben wir denn? Ich würde mal sagen, ich lebe im Kunst-und Kulturbetrieb. Der Kunstbetrieb ist, trotz meines demonstrativen Lebens auf dem Land, trotz meiner kapitalismuskritischen und "authentischen" Rants immer noch mein Stamm. Das sind meine People, hallo People! Das ist das Ufo, die Dr.-Who-Telefonzelle, aus der wir steigen, ob wir nun in Dubai, Venedig oder Chemnitz sind oder in den besseren Gummistiefeln über den Acker laufen. Wir sind Gäste in den unterschiedlichsten Realitäten, die wir wie Astronauten oder Kolonialherren-und Kolonialherrenfrauen oder die Leute in Alien-Filmen für Minuten oder manchmal monatelang erforschen können. Guck mal, diese prekäre, stinkige, wohnungslose, Pilzpflanze sieht komisch aus, da bewegt sich was, Scheiße! Komm, schnell weg!

Immer wenn es heiß und ungemütlich wird, unlösbare Konflikte oder gar Gewalt im Spiel sind, es keine Übung ist, düst dieses Raumschiff in irgendein Paralleluniversum ab. Und zwar dahin, wo Millionenerben oder -erbinnen, Galerien, Stiftungen, Experten für Dekolonialisierung, Anti-Rassismus, die Bewältigung von Klimakatastrophen, Ungleichheit sein können, deren Vermögen und Macht aber genau auf diesen Problemen beruht.

Und wenn ich das richtig verstehe, ist dieses Raumschiff auch eine Kirche, in dieser krisengeschüttelten Zeit. Museen, Institutionen, private Initiativen, Projekträume, das sind Schutzräume, in denen noch "anders", interdisziplinär, poetisch, performativ miteinander geredet werden kann. Ob es um Gaza, Klima oder Trans-Rechte geht: In der Kunstwelt wird das "anders" verhandelt als in der Politik, auf der Straße, "im wirklichen Leben". Institutionen gehören nicht so ganz zu diesem Leben, sie begreifen die politische Rechte nicht als Teil der eigenen Infrastruktur, sondern als etwas, das draußen ist. Und das, obwohl Museen als öffentliche Räume deklariert werden, man sich "gesellschaftlich engagieren", den "Dialog" will und viele der der Akteure des Kunstbetriebs ihre jeweilige Praxis als Aktivismus begreifen.

Dabei ist das Rechte, Völkische schon lange, lange drinnen, in der Kirche, im Raumschiff, im Kunstsystem. Voll Cthulhu, wie bei Donna Haraway, wie in "Alien" oder diesem anderen Horrorfilm, in dem Gloria von Thurn und Taxis und Gilbert & George mitspielen. Und alle wissen, dass da etwas ist, was man lieber nicht berührt, worüber man nicht streitet. Ich zum Beispiel arbeite frei für die Deutsche Bank und Springer, Konzerne, mit denen ich politisch so gar nicht übereinstimme. Ich tue das, weil ich meine Arbeit liebe, weil ich Kunst liebe, meine Auftraggeber mir ab und zu wirklich spannende Jobs geben – und weil ich keine Altersvorsorge habe, ähm. Ich tue das, weil ich nicht mehr an eine "richtige" Seite glaube, weil ich das nicht ausfülle, weil es Teil meiner gebrochenen Geschichte ist.

Ich habe das jahrelang getan, obwohl die Springer-Presse Thilo Sarrazin und der unsäglichen "Achse des Guten" mit ihrer Aversion gegen den Geburtenüberschuss von "Kopftuchmädchen" schon um 2008 den Teppich ausrollte. Sie pushten die rassistische Stimmung gegen muslimische Migrant:innen, gegen Arme, Arbeitslose, Empfänger:innen von Sozialleistungen. Diese Leute, allesamt dumm und arbeitsscheu, die sich "nicht integrieren wollen", sollten schon damals raus, raus aus den überheizten Wohnungen, raus aus Neukölln, am besten raus aus Deutschland. Na, das war doch schon sehr im Trend der Remigration.

Radikale Etuis für die deutsche Familie

Doch während Sarrazin und seine Frau den Graue-Mäuse-Zorn vorlebten, das Thermostat runterdrehten, Blockflöte spielten, den ganzen Asozialen mal richtig vorleben wollten, was deutsche Sparsamkeit und Disziplin bedeuten, kam von Springer und auch von "Cicero", das im gleichen Verlag wie Monopol erscheint, etwas Neues: Eine viel schickere, liberalere, schlauere Version von konservativem Denken. Und diese Version fand auch in der deutschen Kunstwelt großen Nachhall. Selbst ich dachte "Stell dich nicht so an, ist doch superschick und so ambivalent." "Geschmacksbürgertum" hieß der Begriff, den Ulf Poschardt prägte. Der ehemalige Popstar einer eher linken, smarten Szene und dann Chefredakteur der "Welt", wollte sein gleichnamiges Buch 2016 im Merve Verlag veröffentlichen, der eigentlich durch die deutschen Ausgaben französischer Poststrukturalisten wie Foucault, Deleuze, Virilio berühmt geworden war.

Den Begriff hatte er schon vorher in zahleichen Artikeln in der "Welt" eingeführt. Der neue, von Poschardt beschworene Bürger ist wohlhabend, wertekonservativ, nach dem fünften Obstler vielleicht mal richtig deftig rechts, zu Hause biedermeierlich. Er ist aber immer extrem liberal, pro Meinungsfreiheit, das wird ja mal gesagt werden dürfen. Da wo die Linke ihm zu extrem, zu moralisch, fashionmäßig und kulturell zu verpupst ist, wird er im Geschmack radikal. Wie das aussieht, beschreibt Poschardt bereits 2014 in einem "Welt"-Artikel mit dem Titel "So baut das neue Geschmacksbürgertum": "Waren Anfang des 20. Jahrhunderts Design, Architektur und Kunst Agenten revolutionärer Umbrüche, werden dieselben Kulturformen in Zeiten revolutionärer industrieller und medientechnischer Umbrüche zu Agenten von Konstanz und Verlässlichkeit." Und weiter: "Dazu passt auch das Revival der bürgerlichen Familie, die oft genug ein mächtiges Etui für den Schutz ihres Alltags ersehnt. Die Architektur fragt den Bauherrn, wie er leben will und was er der Mitwelt von sich erzählen will. Wer sich die interessantesten Häuser ansieht, blickt auf das Selbstporträt des modernen Bürgertums als selbstbewusste Klasse."

Dein Aktivismus, dein fucking Couture Kleid

Weil das Geschmacksbürgertum in der Globalisierung nicht zu weiß, doof und ungebildet, vor allem nicht zu reaktionär aussehen wollte, musste es Walter Benjamin zitieren und all die fucking Häuser mit aktueller, diskursiver Kunst einrichten. Da passte es gut, dass da gerade Kuratoren aller großen westlichen Museen ausschwärmten, um in den "neuen Kunstzentren" (vorwiegend Afrika) oder der (vor allem Schwarzen) Diaspora nach frischer Kunst zu suchen. Und es passte super, dass da nach der Institutionskritik eine neue poetisch-politische Kunst auf dem Vormarsch war, die die Diskurse um Migration, Ungleichheit, queere Themen, Kolonialgeschichte appetitlich verpackte.

Das Ergebnis ist das, was wir heute sehen: weitgehend entpolitisierte Kunstmessen und Ausstellungen, die aus Kolonialismus-und Kapitalismuskritik, indigenem Wissen, spekulativen Erzählungen und marxistisch-feministischen Ideen eine Art Wellness-Bereich für die herrschenden Klasse bauen. Der Mainstream-Kunstbetrieb möchte das gütige, insta-taugliche Gesicht des Kapitalismus sein. Dein Aktivismus kommt einfach mit der Kohle und dem gekauften Netzwerk. Es ist dein Projekt, genauso wie dein fucking Couture Kleid. Wie das fucking Haus, von dem die Geschmacksbürger denken, sie hätten es mit den eigenen Händen nach ihrer fucking "Vision" erbaut. Du kannst rassistisch, rechts, korrupt sein – in der Kunst spiegeln sich deine Schwarze marginalisierte Seele und der Schmerz der von dir kräftig gequälten Mutter Erde wider.

Niemand, weder die "aktivistischen" Philanthrop:innen, noch die Künstler:innen, Kurator:innen, Theoretiker:innen oder Autor:innen, die den Überbau dazu liefern, glaubt wirklich, dass es der herrschenden Klasse um eine Veränderung der Verhältnisse geht. Niemand glaubt an diese Boutique-Heilung, die gerade vorgeführt wird. Niemand glaubt, dass die Mainstream-Kunstszene auf der Seite der "Working Class" ist, ihre hierarchischen, vor allem ökonomisch diktierten Strukturen ändern kann oder möchte. Trotzdem hält man an dieser langweiligen Story fest, dass da gute Menschen mit Kunst das System ändern wollen. Warum?

Du bist eine Marke

Weil es eine Frage des Brandings ist. In ihrem aktuellen Buch "Doppelgänger" unternimmt Naomi Klein einen Trip in die Online-Mirror-World von Verschwörungstheorien und Desinformation und dokumentiert, wie der aktuelle Rechtsruck auch durch die Ignoranz der links-liberalen Szene mit ermöglicht wurde. Darin spricht Klein auch über den Erfolg ihres ersten Bestsellers "No Logo" (1999), der sich gegen die Macht und Gier von großen Markenfirmen richtete und sich millionenfach verkaufte. Und über den Vorwurf von Kritikern, dass sie in ihrer Anti-Haltung und dem ausgefeilten Design des Covers selbst zu einer Art Marke geworden sei.

Klein zitiert dazu den US-Autor Tom Peters. Der schrieb 1997, lange bevor es soziale Medien gab, im Magazin "Fast Company" einen legendären Artikel: "The Brand Called You". Darin sprach er über die Idee des Personal Brandings – und wurde dafür als Extremist verspottet: "Unabhängig vom Alter, unabhängig von der Position, unabhängig von der Branche, in der wir tätig sind, muss jeder von uns begreifen, wie wichtig Branding ist. Wir sind die CEOs unserer eigenen Unternehmen: Me Inc. Um heute im Business zu bleiben, ist unser wichtigster Job, der Topvermarkter für unsere Brand zu sein, die 'Du' heißt." Na, klingelt da nicht auch das Geschmacksbürgertum-Glöckchen?

Wir sind alle kleine Corporations. Es geht um permanenten Wettbewerb, mit den Kollegen in der Versandabteilung, Nachbarn, Followern, anderen Bauherrn. Klein schreibt, wie ihre vermeintliche Unschuld aus dem Fenster flog: " Ich wurde mir klarer darüber, warum diese Idee eine Brand zu sein, so unangenehm für mich war. Gute Brands sind immun gegen grundsätzliche Veränderung." Deswegen holen sich Firmen auch "Marken-Botschafter:innen", wie etwa Nike auf dem Höhepunkt von Black Lives Matter den Football-Spieler Colin Kaepernick, der sich im August 2016 aus Protest gegen Rassismus und Polizeigewalt nicht zur US-Nationalhymne erhob. Oder die Biermarke Bud Light, die 2023 die Transgender-Influencerin Dylan Mulvaney anheuerte – und angesichts eines Shitstorms der MAGA-Crowd blitzschnell wieder fallen ließ.

Solidarität, kuratiert für Instagram

Genauso funktionieren heute nicht nur die Akteure, sondern auch Institutionen, im Kunstbetrieb. Marginalisierte, Kolonialisierte, Trans-People, Geflüchtete, Bürgerrechtler werden eingeladen wie Gesinnungsbotschafter. Man muss nur die Top-100-Listen angucken. Wo sind denn Black Lives Matter, #MeToo, Letzte Generation, die für ein oder zwei Jahre die Top-Plätze der Rankings einnahmen, als wichtigste Einflüsse auf die Kunstwelt? Sind sie nicht mehr wichtig? Der vertraute Rooster aus Kuratoren, Sammlern, Galeristen ist immer relevant. Solidarität ist in dieser Szene kuratiert wie ein Selfie auf Instagram. Du stellst dich einfach neben die Leute, die gerade passen, so lange wie nötig.

Deutlich wurde das schon 2018, mit den Protesten von Nan Goldin gegen die korrupte Sackler-Familie, die ihr immenses Vermögen mit Oxycontin machte, einem Medikament, das Amerika in die Opioid-Krise stürzte. Natürlich wussten Museen wie der Louvre, das Guggenheim, die Londoner National Gallery schon vorher, dass die Sacklers Verbrecher sind, genauso, dass BP nicht gerade umweltfreundlich ist. Bis dahin störte sie das nicht. Was sie zur Kündigung der Sponsorschaft der Sacklers brachte, war nicht Einsicht, keine interne Diskussion, sondern der drohende Image-Schaden. Nur eine berühmte Künstlerin wie Goldin konnte das mit der Drohung, ihre Arbeiten abzuziehen, vollbringen – und selbst für sie war das riskant.

Dieselben Museen, die nur unter solchem Druck nachgeben, wollen moralische Instanzen sein, ihren Kanon ändern, Kolonialismus, Faschismus und den Rest aufarbeiten. Soll sich etwas in Institutionen oder auch Galerien ändern, muss allerdings erst mal Candice Breitz wie ein Habicht um den Hühnerstall kreisen, Imageschaden, krah, krah, bibber, bibber. Und dann rollt ein Kopf, ist ein Huhn weg, aber der Stall funktioniert genauso weiter, zu dem ja auch irgendwie der Habicht gehört.

Hausgemachte Skandale

Wir hängen mit drin. Wie sehr, zeigte der "Skandal" um "Where Your Ideas Become Civic Actions (100 Hours Reading 'The Origins of Totalitarianism')", die 100-stündige Performance der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera im Hamburger Bahnhof. Ursprünglich wurde die Performance 2015 in Brugueras Haus in Havanna aufgeführt, als die Künstlerin aufgrund politischen Drucks von der Teilnahme an der Biennale von Havanna ausgeschlossen wurde. Bruguera und 50 weitere Personen, die ihre Solidarität gegen Zensur und Repression bekundeten, lasen 100 Stunden durchgehend aus Arendts Werk "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" und diskutierten es mit dem Publikum. Die Lesung wurde aus Protest mit Lautsprechern auf die Straße übertragen Die kubanischen Behörden warfen als Antwort Presslufthämmer vor Brugueras Haus an.

Jetzt also eine Art Re-enactment im Hamburger Bahnhof, auch als Reaktion und Kommentar zu den politisch aufgeheizten Debatten um Gaza, Genozid, Rassismus und Antisemitismus nach dem 7. Oktober. Die Inszenierung eher theatralisch, ein großer Sessel mit Spot drauf für die jeweiligen Vorlesenden, weiße Beanie-Bags, Lounge-Atmosphäre für die Zuhörenden. Bruguera, die auch jüdisch ist, hatte einen breit gefächerten Kreis von Lesenden eingeladen, zu dem ebenso Candice Breitz, Masha Gessen und Mirjam Wenzel, die Direktorin des Jüdischen Museums Frankfurt, wie auch pro-palästinensische "Aktivisten" gehörten. Die störten dann am 11. Februar einmal quasi in Absprache und ein zweites Mal, in einer anderen Zusammensetzung, viel aggressiver die Arendt-Lesung – mit den Chants, die auch bei Demos gesungen werden, Beschimpfungen, Rufen, Deutschland sei ein faschistischer Staat. Es kam zu Tumulten, die Performance wurde abgebrochen.

Ich war nicht da. Aber anwesende Freunde erzählten, dass man in der hallenden Bahnhofshalle des Museums die Lesenden sowieso kaum verstehen konnte. Es sei also wohl weniger um Arendts Text gegangen, als um die Vortragenden. Zudem gehörten zu den Protestierenden auch Hipster aus Neukölln, Leute, die voll zum Kunst-und Kulturbetrieb gehören, Expats, die den Protest in einem anti-kolonialistischen Kontext verstehen. Das ist auch notwendig, finde ich.

Ihr performt ja nur

Blöd ist nur, Bruguera und den anderen Teilnehmern vorzuwerfen, sie würden "nur" performen, während ein Genozid begangen wird, und die eigene Performance außer acht zu lassen, so zu tun, als sei man wahrhaftiger, "echter" als die privilegierten weißen Künstlerinnen. Das ist Bullshit. Auch bei den Gaza-Protesten auf der Biennale in Venedig, bei denen "Shame" gerufen wurde, kam ein Aufschrei, wie man angesichts der Gewalt noch so eine Veranstaltung durchziehen kann. Und man sah dieselben Aktivist:innen eine halbe Stunde später entspannt durch die Pavillons schlendern. Das ist wieder ein interessanter Widerspruch, ich meine das nicht ironisch. Es gibt eine Verbindung, es ist tatsächlich eine Infrastruktur, in der protestiert, Kunst angesehen und gemacht wird. Es ist das Dilemma, das uns verbindet. Dabei sind diese Proteste absolut wichtig, genauso wie das Recht zu demonstrieren, Teil einer funktionierenden Demokratie.

Doch die wird ausgehöhlt, wenn es weiter darum geht, auf der richtigen Seite zu stehen und lieber nicht die tatsächlichen, sehr komplexen Machtverhältnisse anzugucken. Die Idee, dass Performativität etwas ist, das sich drinnen, im "Etui", im Schutzraum des Geschmacksbürgertums abspielt, als ein symbolischer, theatralischer Akt, während die politische Wirklichkeit draußen bleibt, ist fatal. "Performativität" bedeutet auch wegen der populistisch geführten Debatten um Judith Butler, Trans-Rechte und "Cancel-Culture" für viele Leute eine Art Fantasie oder Aufführung, eine schlichte Behauptung: Hey, heute bin ich eine Frau, morgen eine Katze, übermorgen pro-palästinensisch. Dabei wird, auch von wohlmeinenden Menschen, von einer fixen, "wahren" Identität ausgegangen. Der Begriff "Coming-out" etwa impliziert, da käme die eigentliche Identität endlich aus dem Schrank. Oder auf einer Biennale wird endlich die wahre "indigene" Identität von Menschen "aus dem globalen Süden" gewürdigt.

Doch Performativität ist keine freie Wahl, nichts was einzelne Personen aufführen. "Performativ", sagt Wikipedia, "ist die Sprechhandlung, wenn sie ausgeführt oder konkretisiert wird." Das heißt, man tut, was man sagt: "Die Ausstellung ist eröffnet", "Ich verurteile Sie zum Tode", "Ich taufe dich auf den Namen Chantal". Das heißt also auch, Identitäten oder Rollen, die man annimmt, werden sehr vehement, oft durch Gewalt, Beleidigung, Belohnung, Manipulation zugewiesen. Man performt nicht nur etwas, es wird ständig an einem herum performt, sehr radikal, oft gnadenlos. Sprechhandlungen sind auch: "Ihr seid keine Menschen, sondern Schädlinge"; "Man sollte dich vergasen"; "Du widerlicher Antisemit"; "Du Nazi".

Das "Bridgerton"-Problem

Die Identität, die "aus dem Schrank kommt", sei es nun die LGBTQI-Person, der völkische Kunde im Gasthaus, die Aktivistin im Hamburger Bahnhof, ist nicht dabei "authentischer" oder wahrhaftiger, als andere Versionen. Das heißt aber nicht, dass alles gleich oder austauschbar, eine Art karnevalistische Show ist. Wie machtvoll Performativität ist, zeigt meine Lieblings-Netflix-Serie "Bridgerton", in der POC-Schauspieler:innen, die Rollen von weißen, britischen Aristokrat:innen im Regency performen, bei denen es ähnlich wie bei Jane Austen nur um Vermählen, Vermehren und Vermögen geht. Die Idee der Sichtbarkeit, dass marginalisierte, rassifizierte, diskriminierte Gruppen endlich auftauchen, hat sich extrem schnell durchgesetzt.

Es gibt nach nur wenigen Jahren kaum eine historische Serie, in der keine LGBTQI-People, Schwarze Mönche, Held:innen mit Behinderung, eigenwillige und übergewichtige Debütantinnen auftauchen. Diese Diversität wirkte am Anfang noch "performt", heute normal, also viel wirklicher. Selbst 15-Jährige in Thüringen erkennen, dass die herrschende Klasse nicht nur weiß sein muss, dass Bridgerton auch ein Spiegelbild der heutigen Verhältnisse ist. Doch leider wird hier in dieser Historienperformance auch etwas anderes normalisiert: autokratische Herrschaft, Nepotismus, oligarchische Strukturen. Es ist jetzt für alle ok, reich, tolerant und ignorant zu sein, stilvoll "in der neuesten Mode aus Paris" zu chillen, die Saison mit prächtigen Bällen zu eröffnen. "Bridgerton" steht für historische, politische Amnesie, man will nicht nach den Machtverhältnissen fragen, die diese Serie ja eigentlich notwendig machen.

Niemand fragt, was im späten 18. Jahrhundert mit der Sklaverei ist, wo die Kohle in dieser frühindustriellen Gesellschaft herkommt, wie die Leute außerhalb dieser Gated Community leben und von den Adeligen bis aufs Blut ausgebeutet werden. Ich liebe diese Serie, weil man tatsächlich sieht, wie anstrengend und neurotisch diese Ignoranz ist. Die Darsteller:innen grimassieren und ächzen unter Kostümen, Bling und meterhohen Perücken, reden unablässig affirmativen Blödsinn, nur um eine eigentlich beschissene Traumwelt aufrecht zu halten. Kein Wunder, dass die Schwarze Königin ständig miese Laune hat. Diese Form von Ignoranz ist echte Schwerstarbeit. Nein, nicht schon wieder eine goldene Diamanten-Ananas von Damien Hirst, die sind doch sowieso alle gefälscht! Ähnlich angestrengt wirken die Versuche des Kunstbetriebs, politisch relevant zu sein, ohne die Strukturen zu ändern, die mitbeteiligt sind an den herrschenden Verhältnissen, ohne sie konkret zu benennen.  

Realität, prekär wie das Dorfgasthaus

In "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft" schreibt Hannah Arendt: "Totalitäre Politik ist keineswegs einfach antisemitisch oder rassistisch oder imperialistisch oder kommunistisch, sie gebraucht und mißbraucht vielmehr ihre eigenen ideologischen und politischen Elemente so lange, bis die reale Tatsachenbasis, aus der die Ideologien anfänglich ihre Stärke und ihren Propagandawert bezogen – die Realität des Klassenkampfes z. B. oder die Interessengegensätze zwischen den Juden und ihren Nachbarn –, so gut wie verschwunden ist."

Genau das wollen die Neo-Faschisten und die AfD. Wenn sie demnächst an die Macht kommen sollten, müssen sie im Kunstbetrieb gar nicht mehr so viel tun, weil der das in seiner halbherzigen Performativität und mit kapitalistischer Folklore schon selbst besorgt hat. Wie wäre es, mal aus einer unsauberen, widersprüchlichen , peinlichen Lage zu sprechen, dabei angreifbar, ängstlich und inkonsequent zu sein, aber zu versuchen, ad hoc etwas anderes zu performen? Wie wäre es, davon auszugehen, dass das Raumschiff genau so unsicher und prekär ist wie das Dorfgasthaus, wenn wir die Illusion aufgeben würden, es gäbe da ein "Drinnen" und ein "Draußen"?

Zum Abschluss nochmal ein kleiner Pep-Talk: "Gänzliche Illusionslosigkeit über das Zeitalter und dennoch ein rückhaltloses Bekenntnis zu ihm." Das hat Walter Benjamin von der Gesellschaft der Weimarer Republik gefordert. Es hat nicht geklappt. Das Völkische, die Reaktion, das Bedürfnis nach einer einfachen Wirklichkeit, einem klaren "Drinnen" und "Draußen", nach binärer, ignoranter Performativität haben gesiegt. Was dann kam, wissen wir. Doch genau deshalb sollten wir heute alle falschen Hoffnungen über Bord werfen, das Etui verlassen und versuchen, das mit dem Bekenntnis zu unserer Zeit ernst zu nehmen.