Rund 120 Jahre ist es demnächst her, dass in Dresden die Künstlergemeinschaft Brücke begründet wurde: am 7. Juni 1905, übrigens einem ganz gewöhnlichen Mittwoch. Vier junge Architekturstudenten taten sich zusammen, also noch nicht einmal angehende Künstler im eigentlichen Sinne, sondern Aspiranten eines praktischen Berufs. Was daraus wurde, ist bekannt. 60 Jahre nach Gründung eröffnete das der Künstlergruppe gewidmete Museum am Rande des Berliner Grunewalds, und das ist nun so lange her wie damals die Geburt der Brücke.
Für das Team um Direktorin Lisa Marei Schmidt gab es Anlass zu der Idee, 120 Mitbürgerinnen und -bürger zu bitten, sich aus den rund 5000 Objekten der Sammlung des Museums jeweils ein Lieblingsstück auszusuchen und mit einem kleinen Text zur Begründung zu versehen, um es sodann der Öffentlichkeit vorzuführen. So kam die Ausstellung "120 Jahre Brücke. 120 Berliner*innen. 120 Werke" zustande, die jetzt die intime Raumfolge des Museums vollständig ausfüllt.
Gewählt werden konnte alles, was vorhanden ist; egal in welchem Medium, aus welchem Material, mit welchen Maßen: Gemälde, Grafiken, aber auch Skulpturen, Schmuck, Textilien und sogar ein Türschild ist dabei. Präsentiert wird die Auswahl in alphabetischer Reihung der Namen der Auswählenden, um jegliches Schielen nach Bevorzugung oder Benachteiligung von vorneherein auszuschließen. Demokratie in Reinform, lauter Gleiche unter Gleichen.
Die schiere Vielfalt
Man fragt sich, wie eine solch bunte Reihe an den Museumswänden gutgehen kann. Schon rein platzmäßig – großes Gemälde neben kleiner Grafik, schließlich war ja nicht abzusehen, wie sich zwei Nachbarn im Alphabet für ihr jeweiliges Lieblingsstück entscheiden würden.
Es geht aber gut, ganz fantastisch sogar, und an die Stelle einer kunstwissenschaftlichen, sei es chronologischen oder thematischen Ordnung tritt die schiere Vielfalt dessen, was in den Depots verwahrt wird und nur zum Teil häufig zu sehen ist. Die Inkunabeln hängen also zusammen mit den Aschenputteln des Museumsbetriebs. Es geht vor allen Dingen auch auf. Jeder Meter Museumswand ist genutzt, und doch entsteht nirgends Enge oder Überfülle und ebenso wenig Leere oder Gleichförmigkeit.
Natürlich will man wissen, wer da zum Mitmachen eingeladen wurde und wer tatsächlich mitgemacht hat – da haben Schmidt und Team offenbar vorzügliche Überzeugungsarbeit geleistet, denn vom Regierenden Bürgermeister Kai Wegner (CDU) bis zu Fernsehmoderator Günther Jauch, von der scheidenden Kulturstaatsministerin Claudia Roth (Grüne) bis zur Schriftstellerin Jenny Erpenbeck sind etliche Promis dabei, aber ebenso die Straßenbahnfahrerin Anne Achtermeier und die Pflegedienstleiterin Susann Schaer - und sogar das vierjährige Kita-Kind Alma Lina Roumiguière, das sich ein Aquarell von Max Pechstein ausgewählt hat, weil das darauf gemalte Zeltdach wie eine schöne Blume aussieht.
Gelegentlich blitzt so etwas wie Sehnsucht auf
Die Texte decken alles ab, von spontaner Empfindung bis zu Wissenschaft in Kurzform; auffällig nur, dass die Profis, die Kunsthistorikerinnen und Museumskollegen, zumeist wohl abgewogene Sätze formulieren, gerne auch noch einen Beleg für ihre untadelige Moral in Sachen Restitution oder Rassismus einflechten. Dabei macht doch den Reiz dieser Ausstellung gerade das Unverstellte aus, die schiere Freude am "gefällt mir", am Assoziativen. Da herrscht weithin Zurückhaltung, und nur gelegentlich blitzt so etwas wie Sehnsucht nach dem auf, was an der "Brücke" zeitlos gültig bleibt: die Lebensfreude, die Freude an sich selbst und den Mitmenschen, an der Natur oder auch der Großstadt, an allem, was ein Auge entdecken und zu Kunst umformen kann.
Kai Wegner hat sich übrigens eine Straßenszene von Ernst Ludwig Kirchner erwählt, sein Kultursenator Joe Chialo (CDU) mit Erich Heckels "Lautenspielerin" einen der Allzeit-Favoriten des Museums, und Claudia Roth musste natürlich Heckels Musikerbildnis "Roquairol" nehmen, weil das Bild David Bowie zu dessen "Heroes" inspiriert haben soll. Senatsbaudirektorin Petra Kahlfeldt fügt zu einer frühen Arbeit von Brücke-Mitglied und Museumsstifter Karl Schmidt-Rottluff hinzu, sie beschäftige sich damit, "wie das Museum denkmalgerecht saniert und erweitert werden" könne. Das liest man natürlich gerne und nimmt's als Selbstverpflichtung des Senats, endlich etwas Substanzielles für das Haus zu tun – damit es künftig mehr zeigen kann als nur eine schmale Auswahl von 120 Arbeiten aus einem Bestand von 5000.
Als einmaliges Experiment – denn man kann es schwerlich mit gleicher Überraschungswirkung wiederholen – ist die gegenwärtige Ausstellung ein Volltreffer.