Der Satz stammt aus dem 1. Korintherbrief, Kapitel 13: "Die Liebe höret nimmer auf". In der protestantischen Zwinglikirche in Berlin-Friedrichshain steht er an der Wand unter der Orgelempore geschrieben. Wie ein Leitspruch, gut lesbar, unübersehbar. Auch für Daniel Lie.
Lie hat wenige Schritte davon entfernt im Kirchenschiff eine Installation aufgebaut: Mit Kurkuma gefärbte Stoffe hängen an stabilen Seilen herunter, dazwischen sind Lavendelbündel angebracht. Manche der Textilien sind zu Taschen oder Beuteln zusammengenäht, die mit Heu und Erde gefüllt sind, andere sind zu Zöpfen geflochten oder Netzen geknüpft. "The Unloved Ones" lautet der Titel der Arbeit, quasi als Antwort auf den Bibelspruch, denn: Welche Liebe ist da überhaupt gemeint? Oder besser gefragt: Wen meint diese Liebe, und wen nicht? Gilt sie uneingeschränkt - und auch denen, die ein nonkonformes Leben führen?
"The Unloved Ones" ist Lies Beitrag zu "Speaking to Ancestors", einer zweijährigen Berliner Ausstellungsreihe, kuratiert von Keumhwa Kim und Pauline Doutreluigne, für die die beteiligten Künstlerinnen und Künstler raumspezifische Arbeiten an ungewöhnlichen Orten entwickeln, die sich mit Genealogien, Mythen, Riten der Erinnerung und Prozessen des Zusammenlebens beschäftigen. Themen die auch im Werk Lies immer eine wichtige Rolle spielen.
Das zwiespältige Bild der Kirche
Lie will keine Deutung vorgeben, diese ergebe sich erst im Laufe der Zeit. Im Gespräch mit Monopol geht es aber um eine Reihe Widersprüche, die in der Recherche für die Arbeit aufgetaucht seien: "Es war eine große Herausforderung für mich, das Erbe der christlichen Kirchen zu verstehen, zu verstehen, was deren Rolle heute ist und diesen Ort zu verstehen." Die Zwinglikirche hat eine wechselvolle Geschichte und wird heute nicht nur für Gottesdienste genutzt, sondern auch als Kulturraum und sozialer Ort, insbesondere für marginalisierte Gruppen wie Obdachlose oder Suchtkranke. Demgegenüber steht die Kirche, mit der Lie in Brasilien aufgewachsen ist, deren Rolle im Kolonialismus wie deren Ablehnung von Lebensformen jenseits der Heteronormativität.
Daniel Lie ist 1988 als Kind indonesischer Eltern in São Paulo geboren und versteht sich als nonbinär. Dass die Künstler*in mittlerweile in Berlin lebt, liege auch daran, dass Lie sich in Berlin als queere Person sicherer fühle als an vielen anderen Orten.
In Berlin verschaffte sich Lie erstmals in der Gruppenausstellung "Metabolic Rift" im Rahmen des Atonal-Festivals 2021 größere Aufmerksamkeit - einer in der Halle des Kraftwerks präsentierte wilde und geruchsintensive Installation aus kurkumagelben Textilien, Schlamm, Terracottavasen, Pflanzen, Samen, Austernpilzen und anderen Organismen. Eine Installation, die wuchs, wucherte und verrottete, Sinnbild für die Koexistenz der Spezies und Memento Mori zugleich. Lie nennt diese Ausstellung ein "Berlin-Debüt".
Ein großer Kreislauf aus Werden und Vergehen
Doch nicht nur hier hat Lie seitdem einen Lauf. Kürzlich kam der Ars Viva Prize 2024 zur Vita hinzu, außerdem der Preis der Nationalgalerie 2024. Letzterer ging erstmals an vier Kunstschaffende, neben Lie an Pan Daijing, Hanne Lippard und James Richards. Im Juli eröffnet eine Duoausstellung gemeinsam mit Juliana dos Santos im Kunstverein Braunschweig. Im September wird Lie an der 35. São Paulo Biennale teilnehmen.
Die Ausstellung in der Zwinglikirche ist noch bis zum 10. Juni zu sehen. Danach wird Lie die Materialien gewiss zumindest zu Teilen weiterverwenden. Keine Installation wird wiederholt. Alles ist ein großer Kreislauf aus Werden und Vergehen, nichts bleibt, wie es ist, alles ist flüchtig. Auch auf Arbeiten aus eigentlich dauerhaftem Material trifft das zu, wie Lie erklärt. Was nach fünf Jahren nicht die Form verändert hat – etwa weil es verkauft wurde – lässt Lie bewusst verrotten oder wird in neuen Arbeiten recycelt. So stammen Teile von "The Unloved Ones" aus Installationen, die Lie etwa auf der 58. Carnegie International im Carnegie Museum of Art in Pittsburgh (2022) gezeigt hat, im New Museum in New York (2022) oder bei "Metabolic Rift".
Wer eine davon gesehen hat, könnte ein wenig enttäuscht sein. Etwas zahm wirkt "The Unloved Ones" im Vergleich. Da sind keine anderen Organismen mit am Werk, nichts wächst, nichts zersetzt sich, nichts modert vor sich hin, nur der Lavendel verbreitet seinen angenehmen Duft. Auf Lies Respekt vor den vielen unterschiedlichen Gruppen, die den Raum nutzen, lässt sich das zurückzuführen. Verständlich ist das, fürs Kunstpublikum aber etwas schade.