Der Architekt Rem Koolhaas erklärt der Welt gerade, dass die Zukunft auf dem Land liegt. Auch die Corona-Krise mit ihren Ausgangsbeschränkungen lässt das Leben jenseits von Menschenmassen für viele Städter gerade besonders attraktiv erscheinen. Die Metropolen leeren sich, wer kann, flieht ins Grüne. Könnte das zu einer neuen Wertschätzung der Provinz führen? Der Politikwissenschaftler und Soziologe Samuel Salzborn hält das Phänomen eher für einen Ausdruck sozialökonomischer Verhältnisse. Er bezeichnet dörfliche Strukturen als repressiv - und glaubt nicht, dass wir als Gesellschaft nachhaltig aus der Krise lernen.
Herr Salzborn, wo sitzen Sie gerade die Corona-Krise aus?
In Berlin tatsächlich.
Keine Sehnsucht nach Landluft, Wald, Kirschblüten und Seen, an denen man niemandem begegnet?
Nein. Natürlich ist es gerade unschlagbar, wenn man Zugang zu frischer Luft, einem Garten und Bewegungsmöglichkeiten hat, andererseits ist die Versorgungslage in den Städten wesentlich besser. Ich finde nicht, dass man pauschal sagen kann, welches Lebensumfeld gerade besser funktioniert. Wenn man die Corona-Flucht aufs Land glorifiziert, übersieht man die ganzen Missstände, die das mit sich bringt.
Trotzdem scheint viele Städter gerade eine Sehnsucht nach dem Landleben zu befallen – was sich unter anderem durch Handydaten belegen lässt. Bei manchen sehen die Ausgangsbeschränkungen auf Social Media nach einer "Landlust"-Inszenierung aus, wer irgendwie Zugang zu einem Häuschen im Grünen hat, nutzt ihn …
Es gibt ja inzwischen kaum noch etwas, was nicht genutzt wird, um sich selbst zu inszenieren – egal, ob man sich gerade als besonders leidend oder besonders erfüllt darstellt. Auch in der Krise wird durch Social Media moralischer Profit generiert. Die Frage ist dabei, wie groß die Kluft zwischen Inszenierung und Realität ist. Ich glaube gern, dass es im Frühling angenehm ist, viel draußen zu sein, andererseits verzichtet man eben auf basalste Versorgungsmöglichkeiten, wenn man gerade auf einem Dorf sitzt. Diese Widersprüchlichkeit wird dann aber nicht gezeigt, weil soziale Medien wie Instagram keine Medien der Ambivalenz sind.
In Frankreich hat das Thema Landhaus regelrecht einen Klassenkampf angezettelt. Die Autorinnen Leila Slimani und Marie Derrieussecq haben in Zeitungen Corona-Tagebuch von ihren Landsitzen aus geschrieben und die Krise als naturnahen "Dornröschenschlaf" mit Meeranbindung beschrieben. Das kam gerade bei den weniger betuchten Franzosen nicht gut an, die im schlimmsten Fall mit vielen Menschen in winzigen Stadtwohnungen sitzen. Und dann noch als undiszipliniert beschimpft werden, wenn sie mal frische Luft schnappen wollen. Ist Zugang zum Land gerade ein Zeichen von Privileg?
Der Zugang zu Ressourcen hat immer mit ökonomischen Privilegien zu tun. Wenn wir noch mal beim Berliner Beispiel bleiben: Das Haus in Brandenburg muss man erstmal haben. Gerade dieses Privileg wird in der Selbstinszenierung gern unsichtbar gemacht, und die gleichen Leute, die jetzt glücklich unter Kirschbäumen sitzen, sind dann auch wieder froh, in ihr Stadt-Loft in Berlin oder Paris zurückzukehren. Die Klientel, die die derzeitige Situation glorifiziert, nutzt ihre sozialökonomische Situation, was ja auch nachvollziehbar und ihr gutes Recht ist. Gleichzeitig gibt es aber nach wie vor ärmere Menschen, die auf kleineren Dörfern sitzen, und deren Leben immer prekärer geworden ist. Da würde niemand auf die Idee kommen, das Leben oder die Selbstversorgung zu verklären.
Das wahre Privileg ist also die Möglichkeit, jederzeit den Lebensraum wechseln zu können?
Letztendlich sprechen wir beim Thema Stadt- und Landleben unter Corona-Bedingungen über ein sozioökonomisches Phänomen. Wer hat den Besitz, wer hat die Motorisierung, um flexibel zu sein? Das begrenzt sich nicht auf die Krisenzeit, diese Faktoren spielen bei der Lebensgestaltung immer eine Rolle. Das wird gerade sichtbar, aber ob wir es wirklich sehen, bezweifle ich. Das große Privileg ist die Möglichkeit zur Mobilität. Nicht der ökonomische Zwang, wenn ich nur in der nächsten Stadt eine Arbeit finde, sondern die selbstbestimmte Bewegung. Dieses Ermöglichungspotenzial durch Mobilität steht aber wiederum auf der Haben-Seite der Städte, weil Sie dort durch die Infrastruktur mehr Möglichkeiten haben. Je größer der Ort ist, an dem Sie leben, desto wahrscheinlicher ist es, mobil sein zu können – auch und gerade, wenn Sie nicht reich sind.
Wobei alles, was das Leben in einer Großstadt normalerweise ausmacht – Kultur, Nachtleben, Konsum, Gewusel – im Moment nicht geht. Auf dem Dorf ist mit Verlaub sowieso nichts los. Lässt sich der Shutdown dort sogar besser verkraften, wenn man an seinen Routinen festhält, im Garten arbeitet und das Auto wäscht?
Das müsste man wahrscheinlich eher psychologisch betrachten, wo das Verlusterlebnis größer ist. Aber als teilnehmender Beobachter würde ich sagen, dass wir gerade in dieser Krise die sozial segmentierte Gesellschaft deutlich sehen. Es gibt viele Menschen, die unter der derzeitigen Situation sehr leiden und depressive Züge entwickeln, wenn ihnen der soziale Kontakt genommen wird. Auf der anderen Seite gibt es auch die, die in ihrer Selbstdarstellung die Corona-Krise als Chance zur Selbstverwirklichung begreifen. Objektiv lässt sich sagen, dass Angebote der Stadt im Moment tatsächlich eingeschränkt sind. Wenn ich aber auf dem Dorf mein Auto wasche, ist das eine dauerhafte Einrichtung in einer repressiven Struktur. Die mag eine gewisse Stabilität suggerieren, diese hat aber letztlich ein deprimierend eintöniges Niveau. Es ist etwas, das man großräumige Enge nennen könnte.
Sie meinen soziale Enge?
Ja, man ist – gar nicht unbedingt bewusst – in ein enges Netz nachbarschaftlicher Kontrolle und Überwachung eingebunden. Bestimmte verinnerlichte Erwartungshaltungen müssen erfüllt werden – Stichwort Autowaschen. Oder die Internalisierung eines der repressivsten Zwangsinstrumente der Alltagskultur, die wir kennen: die Kehrwoche in Baden-Württemberg. Ich weiß gar nicht, ob sich Foucault bei seiner Beschreibung des Panoptikum-Gefängnisses schon vorstellen konnte, wie sehr man eine solche wechselseitige soziale Kontrolle verinnerlichen kann. Die großen Versprechen der Stadt mögen gerade nicht einlösbar sein, aber die Frage ist ja, ob man sich damit einrichten will, dass es diese Versprechen gar nicht erst gibt? Das, was man aktuell subjektiv als Freiheit erleben kann – ich kann noch mein Auto waschen – ist letztendlich im Kern ein repressives Zwangsritual.
Soziale Kontrolle spielt bei den aktuellen Kontaktbeschränkungen eine große Rolle. Auf dem Dorf weiß man auch ohne Corona, wer sich wann trifft. Kein fremdes Nummernschild, keine Grillparty im Garten bleibt unbemerkt. Kann das im Moment von Vorteil sein, oder befeuert es nur weiter das gegenseitige Misstrauen?
Es kann sicherlich beides sein, sowohl ein konstruktiver als auch ein destruktiver Mechanismus. Das hängt von den konkreten Konstellationen ab. Aber im größeren Zusammenhang ist diese Sozialkontrolle ein repressives Element, das Hauptanliegen ist, andere zu überwachen und abweichendes Verhalten zu sanktionieren. Das mag punktuell positiv bewertet werden, aber generell soll eine Normierung von Lebenskonstellationen erzwungen werden. Das ist grundsätzlich problematisch, weil diese dörflichen Normen – im Unterschied zu tatsächlichem Recht – nicht allgemein bekannt sind und eben nicht für alle denselben Regeln folgen. Zum Beispiel werden bei Jugendlichen auf dem Dorf Einstellungen, die als politisch links konnotiert sind, ganz anders sanktioniert als rechtes Gedankengut, das oft stillschweigend oder offen toleriert wird. Für die Kontaktbeschränkungen gibt es Bestimmungen, an die man sich halten kann, weil sie öffentlich zugänglich sind. Die kann man gut finden, oder nicht, aber sie gelten für alle gleich. Wenn man sie übertritt, gibt es Sanktionsmöglichkeiten. Und exakt das unterscheidet sie von der kleinräumigen Sozialkontrolle im Dorf, weil die dort erzwungenen Regeln ungeschrieben sind. Zu diesem Wissen muss man erst einmal Zugang bekommen. Die Regeln sind hochgradig willkürlich und können sich jederzeit ändern.
Könnte man nicht aber auch sagen, dass gerade jetzt analoge soziale Netzwerke auf dem Dorf gut funktionieren? Man weiß, wer bedürftig ist, wer nicht mehr einkaufen kann und jemand kümmert sich – ohne, dass es Internetbörsen und Plattformen bedürfte?
Ja und nein. Es gibt diese Form von Unterstützung, aber es kann sie an jedem Ort geben, wenn sie auf einer Vorstellung von Solidarität basiert. In Berlin habe ich viele solcher Hilfsangebote erlebt, sowohl für Menschen, die man persönlich kennt, als auch für bisher unbekannte. In dörflichen Strukturen ist diese Fürsorge oft nicht von Solidarität getragen, sondern basiert auf einer unterstellten Verbundenheit, sei es Familie oder langjährige Nachbarschaft. Man geht davon, dass jemand "halt dazu gehört". Das kann dazu führen, dass die Fürsorge eben nicht universell ist und beispielsweise Zugezogenen oder einer Flüchtlingsfamilie verwehrt wird. Das heißt nicht, dass es auf dem Dorf immer so ist, aber es birgt in der Struktur das größere Risiko dafür. Das müsste man sich nach der Krise rückblickend mal genauer anschauen, aber genau das ließ sich auch in den 1990er-Jahren beobachten, als ich politisch sozialisiert wurde. Viele Angriffe auf Flüchtlingsunterkünfte fanden im ländlichen Raum statt, weil dort eben diese Phantasie von Zugehörigkeit und herbeihalluzinierter Nicht-Zugehörigkeit stärker vertreten ist. Die Ideologie von Identität, die an eine Region geknüpft ist, wird in der Stadt durch Mobilität und ständige Veränderung verunmöglicht.
Gerade in Corona-Zeiten hört man oft, dass sich Menschen auf dem Land sicherer fühlen, weil sie dort den Massen entgehen. Können Sie das nachvollziehen?
Das ist ja der typische Ausdruck davon, die Defizite des Landlebens zu überglorifizieren – obwohl zum Beispiel die medizinische Versorgung fundamental schlechter ist. Möglicherweise ist die Ansteckungsgefahr geringer, wobei es auch in Deutschland Infektionszentren in kleineren Orten gab. Dass einen das vermeintlich Böse in seiner Landidylle nicht erreichen könne, ist ein verbreiteter Topos und eine Form der Selbststabilisierung, bei der man gesellschaftliche Realitäten wegredet. Es ist auch typisch, dass man glaubt, die Bedrohung des Ländlichen käme von außen – was zeigt, dass dieses Sicherheitsgefühl eine Ideologie ist. Wenn die Realität in Form der Krankheit dann doch eintritt, ist der Zugang zu medizinischer Versorgung limitiert – da hilft dann auch die Nachbarschaftsfürsorge relativ wenig.
Das Fliehen aufs Land bei einer Seuche hat Tradition. Der Dichter Bocaccio hat seinen "Decamerone" geschrieben, als er vor der Pest in die Toskana floh, "Die Elite muss ins Gebirge" und soll erzählen, sagte Künstler Alexander Kluge im Monopol-Interview. Der britische Premierminister Boris Johnson soll seine Covid-19-Erkrankung nun auf seinem Landsitz Chequers auskurieren. Da muss man fast an einen "Zauberberg" denken, auf dem man den vergifteten Städten entkommt …
Dem liegt sicher ein fast magisches Denken zugrunde. Das Entkommen aus der Gesellschaft ist heute gar nicht mehr möglich, den Eremiten, wie wir ihn ironisch inszeniert aus Monty Pythons "Life of Brian" kennen, gibt es eben nicht. Die Gesellschaft erfasst uns alle. Und auch Boris Johnson sitzt nicht allein auf seinem Landsitz, sondern mit Bediensteten und entsprechender Versorgung. Wenn man es jetzt schön findet, in den Bergen zu sein und sich das leisten kann, ist das eine persönliche Entscheidung. Aber es stellt sich immer die Frage, welche Idee von Idyll man damit glorifiziert. Schon Heidegger hat proklamiert, seine Zeit in düsteren Nadelwäldern zu verbringen – sein Denken war entsprechend repressiv und identitär. Diese Art von Naturerfahrung und produktiver Vereinsamung – die auch ein spezifisches Männlichkeitsbild transportiert – halte ich für hochideologisch. Ich glaube nicht, dass es das bedarf, um zu Erkenntnissen zu kommen. Ich halte es eher für eine Form heroischer Selbstinszenierung.
Sie klingen bisher nicht, als würden Sie die gern vorgetragene Hoffnung teilen, dass wir als bessere Gesellschaft aus der Corona-Krise hervorgehen …
Daran glaube ich in keinster Weise. Dazu müsste man erst einmal definieren, was "besser" überhaupt heißen soll. Das ist ein Containerbegriff, den jeder anders füllen würde. Dem gegenüber wäre ich immer skeptisch, weil vage Heilsversprechen zumeist autoritäre Züge haben. Aber ich sehe nicht, warum diese Krise grundsätzlich etwas ändern sollte. Wir werden auch danach in einer kapitalistischen Gesellschaft leben, wir werden weiter bestimmten Reproduktions- und Verwertungslogiken unterworfen sein. Inwiefern so genannte immaterielle Werte eine größere Bedeutung bekommen werden, ob die Rechtsradikalisierung in Deutschland umgekehrt oder zumindest aufgehalten werden kann – das steht meiner Meinung nach außerhalb dieser Krisenthematik. Wenn die Krise uns alle verändern soll, geht man davon aus, dass die eigene soziale Erfahrung Einstellungen verändert. Aber die Rechtsradikalismus- und Antisemitismus-Forschung zeigt, dass das eben nicht so ist. Es geht um eine Haltung zur Welt – was man auch daran sieht, wie viel Zulauf es gerade für Verschwörungsmythen rund um Corona gibt.
Also kein Lerneffekt durch die Pandemie?
Ich bin ausgesprochen skeptisch. Dann müsste es zum Beispiel eine völlige Neubewertung von sogenannten Care-Tätigkeiten geben, man müsste soziale Tätigkeiten beruflich wie privat stärker würdigen und Einkommensstrukturen und Geschlechterungleichheiten verändern. Im Moment erleben wir den Zuspruch für die enorm wichtigen medizinischen Berufe dadurch, dass man abends am Fenster klatscht. Das finde ich fast peinlicher, als es zu lassen, weil man so tut, als würde man eine Form von Almosen verteilen. Wenn es wirklich Veränderung geben soll, muss ein politischer Prozess eintreten, der die Leistung auch ökonomisch anerkennt – und nicht in zwei, drei Monaten wieder darauf kommt, dass man ja Krankenhäuser schließen könnte. Aber ich glaube nicht daran, dass die Anarchie des Marktes wirklich reguliert wird.