Cornelia Schleime, Sie sind in den 1970er-Jahren zum Studium nach Dresden gegangen. Wurde das so zugewiesen, oder war das die Schule, die Sie am meisten interessiert hat?
Nein, die Gründe sind andere. Ich wollte immer etwas mit Kunst machen, hatte aber kein Abitur. Deswegen hatte ich mich beim Fernsehfunk als Maskenbildnerin beworben. Dazu musste man aber erst Friseur lernen. Ich wurde für dieses Studium an der Fachhochschule in Dresden angenommen, die der Kunsthochschule untergeordnet war. Aber nach zwei Jahren sah sogar meine Professorin, dass ich noch woanders hin will. Ich habe dann das Studium geschmissen, um mich für Grafik-Malerei zu bewerben. Ich musste ein Jahr überbrücken, hatte genug von dem Parfümgeruch bei den Maskenbildnern. Und so bin ich auf der Vollblutrennbahn in Dresden-Reitz gelandet, wo ich eine Ausbildung als Stallbursche gemacht habe, bevor ich endlich studieren konnte.
Hat die Pferdepflegerinnen-Ausbildung hinterher bei der Kunst geholfen? Ihre Malerei ist ja tatsächlich figürlich, da sind ganz viele Porträtierte, das kann ja auch mit dem Maskenbild zu tun haben.
Alles, was man erlebt, hilft. Es war sehr existenziell. Ich habe 1,70 Mark die Stunde verdient, bei täglich vier Stunden Fahrzeit. Das war ein Knüppeljob. Ich hatte mir eingebildet, ich kann da reiten lernen, würde Pferde zeichnen. Hat alles nicht geklappt. Ich musste nur Ställe entmisten und die Jockeys hoch auf diese Pferde hieven und Hufe auskratzen. Aber es war nicht umsonst. Gerade habe ich eine Serie von Pferdebildern gemalt. Alles was man erlebt, findet einen Widerhall in der Kunst. Mitunter 40, 50 Jahre später.
Es gibt oft diese Frage an Künstlerinnen: Wie lange hast du dafür gebraucht? Und die beste Antwort ist immer: ein ganzes Leben!
Ja, so ist es mit dem Leben und dem Widerhall, glücklich wer Künstler ist. Nichts geht verloren, auch nicht die schlechten Erfahrungen. Die verwandelt man.
Die Erfahrung scheint bezeichnend, denn es ging allen Künstlerinnen so, die in der DDR jung waren. Entweder haben sie studiert und dann Aufträge gekriegt, oder sie waren Teil dieser, ich nenne es mal freien Szene und haben sich oft als Totengräber verdingt. Weil man nicht Nichtstun durfte.
Da kannte ich viele. Ja, man musste einen Job haben, sonst wurde man kriminalisiert. Ich hatte Ausstellungsverbot und ich fing dann in einer Keramikwerkstatt an, damit ich überhaupt irgendwie ein bisschen Geld verdiene. Gut, Miete hat ja nichts gekostet in der DDR. 20 Mark für eine Wohnung.
Das Ausstellungsverbot kam später, erst in den 80er-Jahren. 1975 bis 1980 haben Sie studiert. Und waren dann auch schon in der DDR als Malerin bekannt?
So eine Wahrnehmung hatte ich nicht. Wir haben einfach nur gemacht. Klar, ich hatte diesen Ruf, renitent zu sein. Es gab schon eine Szene in Dresden, mit A.R. Penck, der auch Musik machte. Da sind wir manchmal hin. Ich gründete mit meinem Freund eine Punkband. Auch fing ich damals an, Super-8-Filme zu drehen. Das hatte natürlich mit der offiziellen Kunst nichts zu tun.
Für Else Gabriel und Thomas Scheibitz, mit denen ich mich schon unterhalten habe und die ein paar Jahre jünger sind als Sie, waren Sie damals bereits eine große Nummer. Lag das daran, dass die auch schon in dieser Szene waren, oder weil Sie groß in der Zeitung stattfanden?
In der Zeitung stand gar nichts. Nein, ich wurde ja irgendwie ausgelöscht. Das hat sich natürlich in der Hochschule rumgesprochen, wo die studiert haben. Nach meiner Ausreise 1984 hat sich politisch einiges geändert. Kollegen konnten manchmal zu Ausstellungen in den Westen reisen. Die politische Elite erkannte, dass ihnen die Künstler verlorengehen, wenn sie weiter so hart mit denen umgehen. Aber zu meiner Zeit konnten wir nicht reisen. Ausstellungen wurden dichtgemacht, mein Name wurde von Plakaten entfernt.
Bei den Ägyptern hat man das auch so gemacht. Wenn Echnaton in Ungnade fällt, muss der Name von allen Steintafeln verschwinden.
Ich war an einer Ausstellung mit Keramik in Dresden beteiligt. Da sind die Funktionäre dahintergekommen, dass ich hinter dem Pseudonym C.M.P. stecke. Da die Ausstellung schon aufgebaut und plakatiert war, mussten die Ausstellungsmacher durch Dresden gehen und meinen Namen mit einem schwarzen Balken überkleben.
Keine persona non grata, sondern non exista! Warum wurde Ihr Name ausgelöscht? Warum hat man Sie für nicht existent erklärt? Warum hatten Sie Ausstellungsverbot?
Während des Studiums machten wir eine Ausstellung. Bei meinen Porträts hing der Kopf nach unten. Die hatten was Melancholisches. Da ging dann die Parteileitung durch und sagte, so sähe die Frau im Sozialismus nicht aus. Die Ausstellung wurde abgehängt. Den zweiten Anstoß nahmen sie an unserer Türenausstellung, 1979 im Dresdner Leonhardi Museum. Wir arbeiteten mit Türen aus Abrisshäusern. Ich hatte zwei Türen gegenüber gestellt, hatte diese mit Draht verspannt und habe Gedichte von Dichtern, die nicht veröffentlichen durften, an die Drähte gehängt. Ich nannte die Arbeit "Der Tod des Dichters". Diese Ausstellung wurde auch geschlossen. 1978 fing ich mit Körperaktionen an. Ich habe gedacht: "Man gibt mir in der DDR keinen Platz". Also habe ich mich nackt gemacht, meinen Körper benutzt, mich übermalt und mich in Draht und Stricke eingeschnürt. Ich habe immer versucht, für mein beklemmendes DDR-Gefühl eine Metapher zu finden. Diese Fotos sind dann von einem IM der Staatsicherheit aus meinem Atelier geklaut und übergeben worden, was zu einer Vorladung im Verband Bildender Künste führte. "Frau Schleime, was machen Sie da?!" Und ich habe gesagt: "Das ist Performance". Und da haben sie erwidert: "Das ist Müllkunst! Mit diesen Sachen werden Sie nie in den Verband aufgenommen."
Wer saß in dem Verband? Waren das andere Künstler?
Nein, irgendwelche Funktionäre. Ich sagte denen: "Das ist doch ein erweiterter Kunstbegriff". Darauf haben die geantwortet: "Was soll denn das für ein Quatsch sein, erweiterter Kunstbegriff? So was gibt es bei uns in der DDR nicht."
Wie hatte denn für diese Funktionäre - ich nehme mal an, die waren alle männlich - die sozialistische Frau in der DDR auszusehen, wenn sie den Kopf nicht hängen lassen darf?
Positiv sollte sie aussehen. Ich hatte ein Kind bekommen und wollte das Studium nicht unterbrechen. Die Akt-Modelle kamen abends in mein Atelier und waren müde, weil sie den ganzen Tag schon in der Kunsthochschule Modell gestanden hatten. Deshalb hing der Kopf nach unten, sie waren eingeschlafen. Das sah so melancholisch aus. Aber Melancholie hat ja in der DDR auch keinen Platz gehabt.
Das war ein bürgerliches Luxusgefühl ...
Hat auch gut nach Dresden gepasst, in dieses Elbtal. Die Dresdner hatten ja das Gefühl, sie seien zu kurz gekommen. Es gab wegen der Kessellage kein Westfernsehen. Die haben immer gesagt, alles Geld vom Staat geht nach Berlin, und unsere Semperoper ist immer noch ein Trümmerhaufen. Die Stadt hat mich ziemlich runtergedrückt. Die Menschen waren sehr rückwärtsgewandt, haben sich mit altem Klimbim umgeben, Gründerzeitsofas, schweren Samtvorhängen, überall Kerzenständer und so. Berlin, wo ich herkam, war anders. Berlin war cool, war Punk und rau und grau. Funktionäre, die gab es hier wie da. Aber dieses Dresden war voller alter Seelen und Parapsychologen. Eigentlich hätten meine melancholischen Frauenporträts doch gut nach Dresden gepasst, aber die Funktionäre haben es anders gesehen.
Mein Klischee vom Osten war anders. Während im Westen viele Frauen dazu verdammt waren, Hausfrauen zu sein, keinen Beruf haben durften, war es in der DDR möglich, berufstätig und Mutter zu sein. Es gab eine gute Kinderversorgung und so weiter. War der Feminismus nicht viel weiter?
Das Wort Feminismus existierte für mich nicht. Ich fühlte mich politisch und als Künstlerin unterdrückt. Aber nicht als Frau. Viele Frauen wurden während des Studiums schwanger und trennten sich vom Kindsvater, weil ihnen ein besserer über den Weg lief.
Warum interessierte Feminismus Sie nicht, weil schon so viele Rechte für Frauen erkämpft waren?
Es stellte sich für mich überhaupt nicht die Frage nach Frauenrechten. Ich war in diesen Künstler-Männergruppen beheimatet. Allein in meiner Klasse waren 28 Männer. Aber der Staat unterdrückte uns alle, Männer wie Frauen. Wir saßen im selben Boot. Wir hatten ein Feindbild, und das war der Staat. Dahin habe ich meine Energie gelenkt.
Im Sozialismus hätte man wahrscheinlich vom Nebenwiderspruch gesprochen. 1984 haben Sie Ihren Auswanderungsantrag durchgekriegt?
Nein, habe ich nicht. Ich hatte fünf Ausreiseanträge gestellt, die alle abgelehnt wurden. Ich war so verzweifelt, dass ich in einem Telefonat mit meinem Freund im Westen sagte, ich werde jetzt in den Hungerstreik gehen. Dieses Telefonat wurde abgehört, und ich musste plötzlich die DDR innerhalb von 24 Stunden verlassen. Hätte ich vorher gewusst, dass sie unsere Telefonate abhören, hätte ich mir viel erspart und das mit dem Hungerstreik schon mal früher gesagt.
Noch mal zurück zu diesem Ausstellungsverbot 1981: Wie haben die das begründet?
Die haben gar nichts gesagt, man hat es latent gemerkt. Nach meinem Studium sollte ich 1981 eine Ausstellung mit den übermalten Selbstinszenierungen in einer Galerie in Berlin-Mitte haben. Ich wunderte mich, warum die Galeristin sich gar nicht mehr meldete. Denn es war alles schon besprochen, Auswahl und Hängung. Ich erfuhr von einem Freund, der sie kannte, dass die Funktionäre von der Abteilung Inneres bei ihr waren und sagten: Frau Schleime hat Ausstellungsverbot. Aber die schreiben mir keinen Brief, dass ich Ausstellungsverbot habe.
Warum hat ein Staat, der sich selber freiheitlich und sozialistisch nennt, der den neuen Menschen schaffen will, in seinem eigenen Selbstverständnis die Fackel der Aufklärung ganz vorne mitträgt, so große Angst vor Künstlerinnen, vor Poeten, Dichtern, Schriftstellerinnen, Musikern?
Die hatten immer Angst, dass ihr Scheinsystem zusammenbricht. Das Land war wirtschaftlich am Boden. Da waren zum Beispiel Fabriken, die Zahnräder herstellen mussten, obwohl diese gar nicht mehr gebraucht wurden. Es gab diesen Fünfjahresplan, der musste erfüllt werden. Und die Zahnräder landeten auf dem Schrott. Die haben nur fürs Papier gearbeitet. Bürokratie und Denunziantentum. Es gab Unmengen an Spitzel für alles Mögliche. Wenn einer nicht konform war, ging schon ein fremder Schatten hinter ihm her. Meine Kindheit war schon davon geprägt, dass dieses Land falsch ist. Mein Vater kam ursprünglich aus dem Rheinland, und ich hatte viel Westverwandtschaft. Ich trug in der Schule mal eine rote Strumpfhose. Schon kam ein Brief an meine Eltern. Ich würde vom Feindesland eine Strumpfhose tragen, denn in der DDR gibt es keine roten Strumpfhosen. Da hat mein Vater einen Brief an die Schulleitung geschrieben. "Was wollen Sie denn nur? Rot ist doch die Farbe der Arbeiterklasse."
Aber lassen wir den Westen weg. Die Leute, die 30 Jahre vorher diesen neuen Staat aufbauen wollten, waren vorher Widerstandskämpfer gegen den Faschismus, sie waren im Exil, in den Lagern. Da waren auch viele Künstler dabei.
Die waren sicher nicht in den in Lagern. Diejenigen, die die KZs überlebt hatten, wie mein Vater, der im Widerstand war, hatten keine Angst mehr vor dem Staat. Sie hatten ganz andere Ängste kennengelernt. Nein, das waren piefige, charakterlose Funktionäre. Dienstleiter für eine Idiotie.
Der Kölner Historiker Andreas Petersen beschreibt in "Die Moskauer – Wie das Stalintrauma die DDR prägte", dass die Moskauer Exilanten, die die großen Schauprozesse der Stalinjahre durch Denunziation anderer überlebt hatten, das neue Deutschland aufgebaut haben, Walter Ulbricht und Wilhelm Pieck und so weiter. Die haben tatsächlich die Leute aus den Lagern und die Spanienkämpfer zurückgedrängt. Aber nochmal: Warum hat ein Staat so viel Angst vor Kunst? Die haben ja keine Knarre in der Hand.
Ich hatte eine andere Bildauffassung. Man muss die Dinge in die Fläche drücken wie Matisse. Während die DDR ja diese überrealistische Auffassung hatte. Die haben die Badewanne mit Wasser vollgemacht. Und wenn dann eine leichte Welle kommt, ob Poesie oder Surrealismus, und was herüberschwappt, dann waren das schon Feinde.
Wenn ich das schöne Bild mal ausbauen darf: Jetzt wird die Badewanne nach 20 Minuten kalt und kälter. Das ist der wirtschaftlich niedergehende Staat. Die hätten ein bisschen Wasser ablassen müssen und dann wieder heißes Wasser aufgießen.
Aber die sollte so voll bleiben, dass kein Fisch mehr rein passt.
Sie haben jetzt Ausstellungsverbot und reisen 1984 von Ost- rüber nach Westberlin. Eine Stadt, aber eben schon 23 Jahre durch eine Mauer geteilt. Sie waren und sind also in beiden Stadtteilen, in beiden Städten, in beiden Ländern als Künstlerin aktiv und arbeiten. Was ist der Unterschied?
1984 hatte ich erst mal Existenzsorgen. Ich bin mit meinem kleinen Sohn rüber. Bilder hatte ich nicht, weil die in der DDR geblieben waren. Die Wohnung wurde aufgebrochen, das Frühwerk war weg. Ich musste mich also neu erfinden.
Das Frühwerk ist nie wieder aufgetaucht?
Nein, ist es nicht. Ich hatte aber großes Glück und konnte zumindest eine Kiste mit meinen Super-8-Filmen und wenigen übermalten Fotos meiner Inszenierungen retten. Ein Diplomat von der Ständigen Vertretung hat bei meiner Ausreise diese Kiste für mich in den Westen gebracht. Diplomaten wurden an der Grenze nicht kontrolliert. Grade entsteht über diese Arbeiten ein Werksverzeichnis. Das andere ist weg. Ich lebte dann in Kreuzberg. Mit diesen Super-8-Filmen bin ich in die Szene um das Kino Eiszeit gekommen. Und dann fanden schon erste Reisen statt. Auch nach New York, wo wir unsere Filme zeigten. In Westberlin musste ich mich erstmal neu sozialisieren. Ich merkte, dass ich in eine wahnsinnig bürokratisierte Gesellschaft kam. Es klingelten ständig irgendwelche Versicherungsvertreter bei mir und wollten mir Versicherungen andrehen. Trotzdem habe ich dem Osten keine Träne nachgeweint. Ich war befreit, da raus zu sein.
Und wie waren die Kunst und die Künstler und Künstlerinnen? Haben die im Westen eine andere Luft geatmet und anders gemalt? Haben die anders gedacht?
Ja, es war so. In der Zeit war Konzeptkunst in. Es gab also einen Paradigmenwechsel. Alle sagten: "Die Malerei ist out." Ich habe aber gemalt, schon wegen der verlorenen Bilder. Dann bin ich eben out, dachte ich, wen interessiert‘s. Nach einer Weile bekam ich einen Galeristen in Holland. 1988 kam ein Stipendium in den USA, und ich lebte in New York. Ich war endlich angekommen. Und als 1989 die Grenze aufging und der ganze Osten rüberschwappte, traf ich die alte Szene wieder.
Wie sind Ihnen die ehemaligen Kollegen, die Jetzt-Wieder-Kollegen, die Landsmännern und -frauen in den Nachwendejahren begegnet?
Ich kam aus den USA zurück und habe anders gemalt. Ich habe in der DDR sehr surreale, verträumte Bilder gemalt, um diesem DDR-Dreck etwas entgegenzusetzen. Durch New York wurde ich dann cooler. Ich kann ja nicht immer diese verträumte Schleime bleiben. Ich will nicht auf der Stelle treten. Es geht im Leben darum, sich zu verändern, offen und neugierig zu bleiben. Aber sie wollten die alte Schleime erkennen. In New York hatte ich mit der Rapszene zu tun. Ich hatte Basecap auf, ich hatte das Chicago Bulls-Jacket an. War auch stolz, dass ich ein paar englische Brocken mehr konnte. Ich war eine Verwandelte. Nicht mehr die mit langen Kleidern und schicken Hüten auf dem Kopf, sondern eine mit Basecap und mit dieser Jacke. Das hat die DDR-Kollegen irritiert. Der Osten will diese Nestwärme, ist ja heute teilweise noch so. Diese scheinbare Nestwärme, die sie damals empfunden haben. Heute sind viele frustriert und wollen sie wiederfinden. Die gibt es aber nicht mehr.
Und trotzdem sitzen Sie jetzt in Brandenburg und malen Ihre Bilder dort.
Ich brauche nicht die Umtriebigkeit, sondern die Ruhe zum Malen. Ich liebe die Einsamkeit. Ab und zu mal in die Stadt und "hoch die Tassen", und dann wieder Laub fegen. Und jetzt lerne ich hier auf dem Land sogar noch Tango.