Was ich die letzten beiden Wochen getrieben habe? Ich habe viel Zeit auf meiner eigenen Insel verbracht. Was für ein Aufstieg. Es fühlt sich an, als hätte man es geschafft – endlich! Die eigene Insel. Hier gibt es eine Menge zu tun und zahlreiche neue Freunde habe ich dort gefunden. Tagein tagaus kümmere ich mich um mein Styling, meine Blumenbeete, pflanze Bäume, schau, dass die Infrastruktur auf Kawaii (so der selbstgewählte Name des Eilands) mit logischen und guten wie nachhaltigen Verkehrskonzepten bereichert wird und mein Haus wird ebenfalls ständig ausgebaut, renoviert, dekoriert und nach allen mir bekannten Feng-Shui-Gesetzen optimiert.
Ich sag Ihnen – dabei kommt man ganz schön aus der Puste und alles erfordert ein ausgeklügeltes Mikromanagement. Eine ziemlich verantwortungsvolle Angelegenheit. Und wie das ins Geld geht! Dafür können sich die Fortschritte sehen lassen. Auf meiner Insel gibt es mittlerweile ein kleines Museum, dessen wichtigster Stifter natürlich ich bin, einen charmanten Modeladen, einen Campingplatz für Touristen und sogar einen kleinen Flughafen, der von der Dodo Airline mit Chartermaschinen angeflogen wird. Es wächst und gedeiht, die Pläne werden ambitionierter. Am liebsten soll bald ein Open-Air-Festival mit dem Superstar K.K. auf Kawaii veranstaltet werden. Aber bis es so weit ist, dürfte noch eine Weile vergehen.
Ja, hallo, ich bin noch da. Nein, noch bin ich nicht völlig wahnsinnig geworden und ich bin auch kein Karibik-Influencer, der diese Zeilen resilient schmollend in der Sandstrandhängematte tippt. Ich spiele unterdessen seit zwei Wochen das Game "Animal Crossing: New Horizon" (ACNH) auf der Nintendo Switch. Seit dem Erscheinen Ende März ist ACNH zu einem der größten Medienspektakel des bislang ziemlich verquasten Jahres geworden.
Und es hat natürlich auch damit zu tun, dass Millionen Privilegierter in Wohlstandsländern derzeit nicht wissen, wohin mit ihrer Zeit und auch damit, dass das Spiel den versöhnlichsten Eskapismus schafft, den Technologie derzeit produzieren kann. Es ist dieser Tage kaum möglich, eine Switch-Konsole zum regulären Preis zu kaufen. Die Firma Nintendo hat mit diesem Ansturm und dem wirklich spooky wirkenden Timing nicht gerechnet. Wer aber auch? Dass und wie die globale Covid-19-Pandemie mit solch einem Game-Release zusammenfällt, darüber wird man in Jahren noch sprechen. Von was für einer Welt und Realität sprechen wir, wenn in virtuellen Räumen plötzlich "mehr passiert" als in realitas?
Wenn auch die grafische Anmutung an Kinder adressiert zu sein scheint, sind es vor allem Erwachsene, die in diesem Insulaner-Parallelkosmos in diesen Tagen Halt, Erfüllung, Kreativität und so etwas wie Fortschritt im Alltag erfahren. Rapstars wie Lil Nas X oder Hollywood-Star Chrissy Teigen teilen ihre Gaming-Erfahrungen auf sozialen Medien. Statt in Cafés und Clubs treffen sich Menschen auf "Animal Crossing" zum Tinder-Date (ohne Anfassen) und die "MIT Technology Review" postuliert, dass Games wie "Animal Crossing" "die neuen sozialen Medien der Corona-Ära" seien.
Vom Holzhacker zum Millionär
Das Narrativ ist schnell erzählt. Mein Avatar flieht auf eine einsame Insel und der zunächst freundlich wirkende Zeitgenosse und Geschäftsmann Tom Nook hilft mir dabei, Fuß auf dem Eiland zu fassen. Mit im Gepäck seine Neffen Nepp und Schlepp, die sich als knallharte Händler herausstellen sollen. Man fängt mit rudimentären, körperlichen Tätigkeiten wie Holz hacken, fischen und Insekten fangen an und baut sich allmählich ein Skill-Set und Kapital auf, um Fortschritte zu erzielen.
Ohne Moos läuft auch hier nichts. Alles andere wäre auch eine verfälschte Lebenssimulation. Und umso mehr Reichtum angehäuft wird und je größer die Visionen, desto höher werden die laufenden Kreditzahlungen. Angefangen mit archaischer mühsamer Handarbeit steigt man im Laufe der Zeit in den Aktien- und Spekulationshandel mit Rüben ein. Ein sozialer Aufstieg: Man lässt das Geld für sich arbeiten.
Genauso wichtig sind Devisenbeschaffungen in Form von "ausländischem" Obst. Steigt die eigene Macht und das Prestige auf der Insel, stellen wir jedoch fest, wie wenig die Insel uns tatsächlich gehört. Sie gehört ganz alleine Tom Nook und seinem imperialen Unternehmen. Mit dem Druck des wirtschaftlichen Wachstums wird klar, wie hart Nook einen wirklich an den Eiern hat. Die Schraubzwinge aus Titan. Der knuffige Waschbär ist und bleibt ein Raubtier, da helfen die putzigsten Comic-Augen nicht.
Schaut man sich auf Twitch und YouTube die Ergebnisse der Community an, erkennt man, wie unterschiedlich Menschen mit diesem Zwang des Kapitals umgehen. Einige erschaffen sich luxuriöse Imperien und manipulieren gar die konsoleneigenen Systemeinstellungen, um schneller an Zinsen zu kommen. Typ: Systembescheißer, Investor, Banker. Hier sehen einst öde Idyllen aus wie jene Städte, aus denen sie geflohen sind. Andere wollen nichts anderes als Blumen züchten und in Ruhe gelassen werden. Viele wollen auch einfach angeben, wie geil ihre Inseln sind und laden möglichst viele Leute ein. Typ: Influencer und Neid-Producer.
Ich frage mich derweil, ob siebenstellige Kredite im alltäglichen Nacken überhaupt lebenswert ist und ob ein Leben als Fischer mit großem Obstgarten und großem Steinofen auf dem Feld nicht vielleicht auch reichen könnte. Vielleicht ist eben genau das die große Erzählung dieses Spiels. Bis der Kapitalismus überwunden wird, müssen wir ja auch im echten Leben schauen, irgendwie das Richtige zu tun.