Immer lag ein wenig Ironie und Verschmitztheit in dem warmen Blick von Christian Boltanski. Ein Blick, der häufig ganz gegensätzliche Richtungen zuließ, in die die ausgetauschten Gedanken fließen könnten: andächtige Stille und Melancholie oder kichernde Leichtigkeit. In der dialektischen Weltanschauung Christian Boltanskis hingen diese Emotionen so eng miteinander zusammen wie Leben und Tod.
Der Tod war das zentrale Lebensthema für Christian Boltanski. Ihn zu verstehen, zu hinterfragen und nicht zu akzeptieren, war sein Anliegen. 1944 wird er im soeben von der deutschen Besatzung befreiten Paris geboren. Noch wenige Monate zuvor hatte die Mutter seinen jüdischen Vater in einem Treppenverschlag verstecken müssen, um das Schlimmste zu verhindern. Die in der Shoah verankerte existenzielle Angst vor dem Tod wird auch seine Kindheit prägen, die er immer wieder als düstere und angstvolle Zeit beschrieben hat.
Schon in seinen frühesten Arbeiten beschäftigt er sich dann mit der Erinnerung an das Verlorene, das Ausgelöschte: 1972 gestaltet er in ganz ähnlicher Weise wie der Schriftsteller W.G. Sebald fiktive Nachlässe aus gefunden Alltagsobjekten, die er in einer performativen Auktion zur Versteigerung bringt. Im gleichen Jahr nimmt er mit dem Foto-Album der vollständig unbekannten "Familie D." an der Documenta 5 in Kassel teil und erlangt so erstmals internationale Sichtbarkeit.
Boltanski blieb immer am Puls seiner Gegenwart
Deutschland wird in den kommenden Jahren eine immer wichtigere Rolle für ihn spielen: Eine ständige Rauminstallation entwirft er in den 1990er-Jahren für den Neubau der Berliner Akademie der Künste. Bei der Ruhrtriennale 2005 leitet er in Essen in der Kokerei der Weltkulturerbe-Zeche Zollverein gemeinsam mit Andrea Breth und Jean Kalman das Projekt "Nächte unter Tage", das aus Kleiderballen besteht, die von Arbeitern immer wieder neu geordnet werden. Dazu bewegen sich Mäntel an Transportbändern. Eine anrührende und zutiefst verstörende Installation.
Es ist das Unverständnis über den Tod und eine ebenso intellektuelle wie emotionale Auseinandersetzung mit der Shoah die sich von hier ausgehend durch Boltanskis Oeuvre ziehen wird. Und ganz eng damit verbunden ein warmer und tröstlicher Blick auf die Zerbrechlichkeit jedes einzelnen Menschenlebens.
Obwohl sich fast alle seine Arbeiten mit dem Tod und der Erinnerung beschäftigen, bleibt Boltanski immer am Puls seiner Gegenwart und nimmt Bezug auf Themen, die gerade aktuell sind - zuletzt die Flüchtlingsströme Richtung Europa, denen er in einer ergreifenden Rauminstallation aus goldener Isolierfolie in einer umfassenden Retrospektive in Osaka im Frühjahr 2019 gedenkt. Er bleibt auch im fortgeschrittenen Alter immer neugierig und experimentierfreudig, wie seine gemeinsam mit Jean Kalman und Franck Krawczyk im Parkhaus des Centre Pompidou aufgeführte Oper zeigt, die er anlässlich der großen Retrospektive des Museums inszeniert.
Das "ultimative Kunstwerk" basiert auf einer Wette
Die Vielfalt der von Boltanski bespielten Medien, die stets um den Themenkomplex der Vergänglichkeit unserer irdischen Existenz kreiste, macht das Werk dieses Ausnahmekünstlers aus. Ein Oevre, das vielleicht stets darauf angelegt war, ohne seinen Schöpfer noch lange fortbestehen zu können: zwölf Jahre lang ließ sich Boltanski in seinem kleinen, bescheidenen Atelier im Pariser Vorort Malakoff rund um die Uhr von vier Kameras filmen. Das daraus entstehende "ultimative Kunstwerk", geht auf eine Wette mit dem australischen Millionär David Walsh zurück, der Boltanski seit der Installation der Kameras eine Rente zahlte. Es kann nun nach Boltanskis Tod von Walsh veräußert werden. Ob es wirklich zum Verkauf kommen wird und ob Walsh durch den möglichen Erlös die an Boltanski entrichteten Zahlungen tilgen kann, ist noch unklar - ideell hat Boltanski diese Wette gewonnen, die seinen ironischen Blick auf den Kunstmarkt widerspiegelt.
Die Spuren von Christian Boltanskis Leben sind aber nicht nur auf unzähligen Festplatten auf der australischen Insel Tasmanien gesichert. Sein Herzschlag etwa klingt aktuell durch die Ausstellungsräume der Galerie Kewenig in Berlin. Es war der erste von mehr als 120.000 Herzschlägen, die Boltanski in den vergangenen Jahren in seinen "Archives des Coeurs" auf der japanischen Insel Teshima zusammengetragen hat. In einem vor zwei Wochen geführten Interview gab er zu: "Wenn ich einen Herzschlag höre, habe ich Angst vor der Stille. Der Schlag des Herzens enthält immer beides: das Leben und den Tod."
In seinem eigenen Leben feierte er beides gleichermaßen: Die Stille im Atelier und in seinen Arbeiten und das Leben im Austausch mit Freunden und in seiner Stamm-Brasserie, der Closerie des Lilas am Pariser Boulevard Montparnasse. Nun ist Christian Boltanski im Alter von 76 Jahren verstorben. Aber sein Herz schlägt weiter in dem Oeuvre, das er uns hinterlassen hat.