Christian Boltanski, um wessen Zeit geht es im Titel Ihrer Ausstellung im Centre Pompidou, die jetzt eröffnet?
Der Ausdruck "Faire son temps" hat im Französischen zwei Bedeutungen. Es bedeutet "seine Zeit abbilden", aber eben auch: "am Ende seiner Zeit angelangt sein". Dementsprechend entspannt sich die Ausstellung auch zwischen den aus Glühbirnen geschriebenen Worten "départ" und "arrivé". Es geht also um Aufbruch und Ankunft und damit aber auch um den dazwischen liegenden Weg mit seinen unterschiedlichen Stationen. Mir ist der Begriff des Wegs lieber als der Begriff der Retrospektive.
Versuchen Sie also, dem Konzept einer Retrospektive zu entkommen?
Mir ist zumindest wichtig, dass die Ausstellung als Gesamtkunstwerk verstanden werden kann. Jedes einzelne Werk hängt mit den anderen zusammen. Das ist ein bisschen vergleichbar mit dem Vorgang des Kochens. Wenn Sie ein Gericht aus Eiern, Butter und Tomate kochen, haben Sie am Ende ein neues Gericht, aber es besteht aus den gleichen Eiern, der Butter und der Tomate, die Sie vorher im Kühlschrank hatten.
Und welche Zutaten haben Sie für diese Ausstellung ausgewählt?
Es sind insgesamt etwa fünfzig Werke, von denen die Hälfte noch nie in Europa gezeigt wurde, sondern nur in Südamerika, China oder Japan. Für mich ist diese Ausstellung die erste größere in meinem Heimatland Frankreich nach wichtigen Stationen im Ausland, vor allem in Japan.
Welche Arbeiten betrifft das beispielsweise?
Zum Beispiel "Misterios", eine Arbeit, die ich 2017 in Patagonien realisiert habe und die als Video-Installation ausgestellt wird. Dabei ging es mir darum, über drei große Metallhörner mithilfe des Windes mit den Walen vor der Küste Patagoniens zu kommunizieren.
Klänge und Musik werden auch im Centre Pompidou eine Rolle spielen – allerdings versuchen Sie hier nicht mit Walen, sondern mit ihrem Pariser Publikum zu kommunizieren. Was können Sie uns über Ihre "Parkhaus Oper" verraten?
Ich habe wieder einmal mit meinen Freunden Jean Kalman und Franck Krawczyk zusammengearbeitet. Wir hatten bereits 2016 auf der Baustelle der Salle Favart der Opéra Comique ein Konzert veranstaltet. Nun ziehen wir in das Parkhaus vom Centre Pompidou und laden die Besucher ein, eine Oper für Sopran, Cello, Schlagzeug, E-Gitarren und einen Chor zu erleben. Aber auch diese Oper folgt dem Gedanken des Wegs und der Ewigkeit und hat somit weder Anfang noch Ende. Man kann kommen und gehen, wann man will, und nimmt diese Oper nicht frontal auf einer Bühne war, sondern ist von ihr umgeben und wird selbst zum teilnehmenden Nebendarsteller. Das Parkhaus wird dabei übrigens weiterhin genutzt. Es gibt also bewusst zugelassene Einflüsse von außen. Das Spektakel wird zwischen dem 10. und 12. Januar zu erleben sein.
Was fasziniert Sie am Vergänglichen und Performativen, das in Ihrer Arbeit eine immer größere Rolle zu spielen scheint?
Mich fasziniert die Exklusivität des Vergänglichen. Wenn man in ein Theaterstück geht, haben das am Ende nur diejenigen Menschen erlebt, die eben vor Ort waren. Und so habe ich auch versucht die Ausstellung zu konzipieren. Sie soll weit über das einzelne Objekt hinaus weisen und durch als Weg eine Einzigartigkeit auf Zeit haben – und so auch nur im Centre Pompidou zu sehen sein.
Kann es sein, dass Sie das einzelne Objekt immer weniger interessiert?
Ich habe nie etwas aus Bronze oder Marmor gemacht. Meine Werke waren immer von unvorstellbarer Zerbrechlichkeit. Man muss achtsam mit diesen Werken umgehen. Ich glaube, dass diese Zerbrechlichkeit, das Vergessen, die Zerstörung mehr oder weniger ein Teil meiner Arbeit sind. Und heute geht es mir kaum mehr um das Objekt. Es gibt kein Objekt mehr. Es geht eher um die Erinnerung, die man an ein Objekt haben kann.
Sie haben den Titel der Ausstellung eingangs schon erklärt. Glauben Sie an das Überleben Ihres Werks?
Was am Ende bleibt, das ist der Mythos oder die Legende. Nicht die Werke selbst. Ich glaube, dass die Weitergabe eines Mythos nachhaltiger ist als die Weitergabe eines Objekts. Mein ganzes Leben habe ich gegen das Verschwinden angekämpft. Und ich habe immer verloren. Die Schönheit im Menschsein liegt in dem Wissen, dass ich Teil einer Kette bin. Ich weiß, dass es Menschen vor mir gab, und ich weiß, dass es welche nach mir geben wird. Und dass ich in der kurzen Zeit, die ich habe, vielleicht ein kleines bisschen die Menschen nach mir beeinflussen kann. Und ich glaube, dass man mit Bestimmtheit nur sagen kann, dass alles weitergeht. Es gibt diesen furchtbaren, aber auch sehr interessanten Satz von Napoleon. Er steht in Austerlitz umgeben von tausenden Leichen und sagt: "Das alles hat keine Bedeutung, denn eine Liebesnacht in Paris wird all das ersetzen." Das ist ein entsetzlicher und abscheulicher Satz. Und gleichzeitig ist es wahr.
Liegt in der Kraft der Verdrängung vielleicht ein Segen für unsere irdische Existenz?
Mein Interesse für die Vergänglichkeit hat mir beigebracht, jeden Moment wertzuschätzen. Das Leben ist in meinen Augen unfassbar tragisch. Schlimmer sogar. Es ist furchtbar. Alles ist voller Schaurigkeiten, wir sind Monster. Wir tun nichts dagegen. Es ist wirklich lächerlich. Aber zum Glück haben wir die Kraft des Vergessens. Die Kraft der Leichtigkeit. Wir wissen das alles, aber für einen Moment können wir vergessen. Das Vergessen ist stärker als die Erinnerung.
Ist das nicht eine recht erschütternde Erkenntnis für unsere westliche Weltenordnung und den christlichen Glauben an göttliche Ewigkeit und Wiederauferstehung ?
Das kann schon sein. Aber genau deswegen versuche ich, in der Kunst immer wieder Fragen zu stellen. Ich glaube, wir sollten nur Fragen stellen und sind gar nicht imstande, Antworten zu geben. Deswegen interessiere ich mich momentan auch besonders für den Buddhismus, den Shintoismus und die jüdische Glaubenswelt. Denn es sind Religionen der Suche und nicht der Antwort. Die Suche ist mir wichtiger als das Finden. Politische Gruppierungen oder Religionen, die der Meinung sind, Antworten gefunden zu haben, sind meiner Einschätzung nach sogar gefährlich.
Welche Rolle spielt für Sie die Gegenwart? Beispielsweise, wenn Sie hier im Atelier sind?
Ich arbeite sehr wenig. Am liebsten verbringe ich die Zeit in meinem Atelier damit, schlechte Fernsehsendungen zu schauen. Je schlechter sie sind, desto besser tut es meinem Kopf. Mich bringt der Müßiggang weiter, die Prokrastination. Wenn man sich diesem Zustand lange genug hingibt, entstehen manchmal Dinge. Aber dafür muss man auch einen gewissen Mut aufbringen. Und meistens stelle ich mir Aufgaben wie dieses Interview, um zu vermeiden, in diesen offenen Zustand zu geraten. Es geht mir also einerseits immer darum, zu arbeiten – und gleichzeitig darum, die größtmögliche Freiheit für die Arbeit geschehen zu lassen. Aber wenn ich zurückblicke hatte ich wahrscheinlich nur drei wirklich kreative Momente in meinem Leben: den ersten, als ich ein junger Mann wurde, den zweiten, als meine Eltern starben und den dritten, als ich selbst ein alter Mann geworden war. Natürlich habe ich zwischen diesen Momenten inspirierende Momente erlebt und einzelne Arbeiten versucht, aber ich bin davon überzeugt, dass man in der Kunst vor allem zwei Dinge tun muss: warten und hoffen. Für diese beiden Un-Tätigkeiten ist in meinen Augen die Gegenwart da.