Gegenwartskunst im Erzgebirge

Die Spur der Skulptur

Der Purple Path ist eines der Highlights der Kulturhauptstadt Europas 2025 – und das schon, bevor es überhaupt losgeht. In unzähligen Gemeinden des Erzgebirges treffen in den kommenden Monaten zeitgenössische Kunstwerke auf lokale Kulturtradition. Einige gibt es schon jetzt zu sehen


Alicja Kwade in Marienberg: Faschingsumzug im Nussknackerland

Der Marktplatz von Marienberg ist einer der größten Deutschlands. Eine ideale Bühne für Bergmannsparaden. Neuerdings hält der Kurator Alexander Ochs hier Referate über den Auftritt großer Kunst im kunsthandwerklich versierten Erzgebirge. Seine Mission: der Purple Path, bis 2025 größter Skulpturenpfad Europas. So alles klappt mit der Kulturhauptstadt in und um Chemnitz, für die er sich seit drei Jahren engagiert. Mit schnellen Gesten skizziert der Kurator Kugeln und Quader in die Luft. Solche, wie sie etwa auch die Berliner Bildhauerin Alicja Kwade gern baut. Ihre Installationen könnten die kühne Symmetrie der 500 Jahre alten Silberstadt plastisch im Heute weiterdenken. Wer, wenn nicht die renommierte Gesteinsexpertin, sollte diesem aus der Finsternis geschürften Bergbau-Erbe eine griffige Form verleihen, so Ochs. Er zeigt, wie Kwades Werk das zukünftige Unesco-Welterbezentrum für die Montanregion mit dem Denkmal für Heinrich den Frommen verbinden könnte – dem Begründer dieser ersten Idealstadtanlage nach italienischem Vorbild nördlich der Alpen.

Noch ist die Skulptur von Alicja Kwade nicht zu sehen. Doch um bereits jetzt schon einmal Werbung für sie sowie für den gesamten Purple Path zu machen, lässt Ochs kurz vor Ostern gleich mehrere Blitzlichtanlagen in Marienberg aufbauen: Im Rathaus dann marschieren zwei Herren in historischer Paradeuniform vor der Düsseldorfer ­Fotokünstlerin Corina Gertz auf. Sanft rückt die einen der reich bestickten Bergmannrücken gerade und drückt auf den Auslöser der Kamera. Es sind die ersten männlichen Portraits, die sie für ihr weltumspannendes Projekt über die Macht der Tracht sowie identitätsstiftende Mode sammelt. Plötzlich wird das Erzgebirge etwas ganz besonderes. Markus Seiler, einem der letzten Trachtenmacher weit und breit, kommen die Tränen. Er kann gar nicht fassen, was hier passiert. Während seine Familienwerkstatt für ein Purple-Path-Kampagnenshooting hergerichtet wird, sagt er: "Diese Aufmerksamkeit für unsere Tradition, das ist wie eine Art Lohn für all die mühevolle Arbeit."

 


Rolf Büttner in Annaberg: Kunst kommt von Machen. Und auch von Hier

Wie jedes kulturelle Großevent setzt auch der Purple Path auf einen Mix aus internationalen Stars und lokalen Künstlern. Neben großen Namen wie Alicja Kwade oder James Turrell soll auch Kunst von lokalen Künstlern entstehen und zu sehen sein. Das wurde von der Szene vor Ort eingefordert. So ist es ein Akt der Genugtuung, dass sich seit Februar die ersten Locals auf dem Vorplatz der Chemnitzer Jakobikirche behaupten dürfen – neun Skulpturen, die auf einem Bildhauersymposium in Annaberg letzten Herbst entstanden sind und die von einer regionalspezifischen Sicht auf die Welt erzählen. Auch dabei: Rolf Büttners aus Eichenholz gesägtes und mit Beton abgeformtes Sarkophag-ähnliches Gebilde "Formung". Dem freischaffenden Designer mit Di­plom der Bauhaus-Uni Weimar ging es um die Frage: Was prägt uns, was formt uns? Ganz klar, der Bergbau und der Tod, so der gebürtige Karl-Marx-Städter abgeklärt. Und die Region. Büttner wäre wohl nie Künstler geworden, hätte er nicht vor Jahrzehnten bei einem Ferienmalwettbewerb einen Bildhauerkurs an der Volkskunstschule im nahe gelegenen Oederan gewonnen.

In der 1967 gegründeten Laien-Institution hat er wie Hunderte anderer gelernt, wie man zu seiner Form kommt. "Die konzeptionellen Fragen eines Kunstwerks sind ja immer gleich, egal ob man große Weltkunst macht oder nicht", so Büttner. Der 55-Jährige, der sich gegen den Weg zum "Vollprofi" entschieden hat, ist seit 20 Jahren Leiter der Volkskunstschule, einem Relikt sozialistischer Kulturpolitik, das die DDR erstaunlicherweise überlebt hat und heute großteils kommunal getragen wird. Bis zu 350 Schüler lernen hier schnitzen und töpfern sowie Cartoons oder Lithografien herzustellen. Auf der Website bekennt man sich zum Purple Path. Dass dort in großem Maßstab kulturelle Identität gestiftet werden soll, das könne er doch nur unterstützen, so Büttner. Im Juli wird er das zweite lokale Bildhauersymposium für die Kulturhauptstadt mit ausrichten. Im Herbst gibt’s dann einen Fotokurs, wo Hobbyfotografen die Veränderungen durch Chemnitz 2025 in der Region dokumentieren. Dem Ankommen internationaler Kunst in seiner Heimat sieht Büttner mit Staunen zu: "Wenn so große Sachen hierherkommen, motiviert das einen ja selbst auch wieder zu Größerem!"

 


Anja Rochelmeyer in Flöha: Vom Kuratieren in Problemzonen 

Es ist ein virales Bonmot: "Auf Veränderung zu hoffen, ohne selbst etwas dafür zu tun, ist, wie am Bahnhof zu stehen und auf ein Schiff zu warten." Der Autor ist leider unbekannt. Doch es könnte ganz sicher auch von Alexander Ochs, dem Kurator des Purple Path, stammen. Ochs nämlich steht nicht nur an den verwaisten Bahnhöfen von Sachsen, wo 30 Jahre nach der Bahn-Privatisierung jeder fünfte Gleiskilometer stillgelegt wurde, er will sie auch wieder ertüchtigen. Und da Kultur Katalysator für Revitalisierungsprozesse sein soll, schleppt Ochs in Fitzcarraldo-Manier Kunst ins Erzgebirge. Für das Flagship-Projekt Purple Path hat er zusammen mit den ins Boot geholten Bürgermeisterinnen und Bürgermeistern schon einige Dinge in der Kulturregion realisiert. In Flöha wird sich der städtische Schandfleck Bahnhof vorgeknöpft. Ein Bermuda-Beton-Dreieck aus Bundesstraßen- und Bahntrassen-Unterführung, das seit Jahren ein tristes Dasein samt Vandalismus fristet.

Seit vergangenem Herbst können sich hier die Besucher in einer farben- und formenfrohen Wand-installation spiegeln, wenn sie den 100 Meter langen Gleistunnel entlanglaufen. Ein kleiner Anfang für den Kunstbahnhof, den Anwohner erfrischend finden. Selbst die Bahn, die die Materialkosten für Tanja Rochelmeyers 172-teilige Installation "Glance" trägt, tauscht sogar noch den Fußboden aus. Doch um den Zauber komplett zu ­machen, um sich auch die verwahrloste Schalterhalle in zwei Jahren als Kunstbühne vorzustellen, dafür braucht es noch Fantasie. Diesen Ort zu beleben, davon hatte schon Afzahl Mahmood aus Pakistan geträumt, als er vor sieben Jahren den Bahnhof für kleines Geld ersteigerte. Doch für mehr als eine Handvoll Einliegerwohnungen samt Dönerladen hat es bei dem Hansdampf in allen Gassen bisher nicht gereicht. Aber wenn ihn die Stadt – wie gerade diskutiert – bei der Foyersanierung finanziell unterstützen könnte, dann würde er auch die Schalterhalle ohne Weiteres dem Purple Path überlassen. 

 


Michael Morgner in Freiberg: Augenfasten mit abstrakter Kunst 

Als "Jakobsweg der Gegenwartskunst" wird der Purple Path auch bezeichnet. Schließlich sind die geplanten 70 Skulpturen und Kunstwerke auch durch eine spirituelle Idee verbunden. Und erstmals ist auch die Kirche aktiv im Boot einer Kulturhauptstadt. So konnten Besucher des Freiberger Doms während der Passionszeit erleben, wie sich das Frühlingslicht in einem drei mal fünf Meter großen Fastentuch von Michael Morgner verfing. Wie jeder Lufthauch diese aus bedruckten Seidenpapierblättern bestehende Fläche zum Glitzern und Knistern brachte. Dass das fragile Werk von einem der wichtigsten zeitgenössischen Künstler aus Chemnitz im Altarverhüllungsprogramm des Purple Path gelandet ist, ist eine glückliche Fügung. Denn eigentlich hält der notorische Unruhegeist Morgner nicht viel vom Kulturhauptstadtspektakel. Dabei erzählt sein Werk so viel von dieser mittelsächsischen Welt, vielleicht mehr als manch andere künstlerische Arbeit des Purple Path – eines Weges, der Verbindungen zwischen lokaler Kultur und globaler Kunst sucht.

Vor Publikum erzählt der 81-Jährige, wie ihn schon früh eine 500 Jahre alte Christusfigur aus Holz im Bergbaumuseum Freiberg zu seinem ewigen Ecce-Homo-Thema inspirierte. Seitdem findet sich in Morgners Werk immer wieder eine arm- und beinlose Figur – ob als normierte, geschundene Seele im Sozialismus oder im Getriebe des Kapitalismus. Auf die schmeichelhafte Frage, ob denn sein Fastentuch von jetzt an jedes Jahr zur Karzeit den Freiberger Altar verhüllen könne, scheint Kulturhauptstadt-Pfarrer Holger Bartsch fast gewartet zu haben. Ja, den Purple Path zu verlängern, das Erbe des Kulturhauptstadtprozesses über das eigentliche Titeljahr hinaus nachhaltig zu sichern, genau dazu möchte man ermutigen. Vielleicht kann die Gemeinde das fragile Stück dauerleihborgen!? Abgesehen davon wird derzeit an einer Stiftung ­gearbeitet, die den Verbleib der vielfach nur geliehenen Kunstwerke auf dem Purple Path in der Region dauerhaft ­absichern soll. 38 sächsische Gemeindebürgermeister, die sich für zeitgenössische Kunst einsetzen. Eine ungewöhnlich gute Botschaft!

 


Friedrich Kunath in Thalheim: Große Kunst mit Eierschecke

Chemnitz ist Europäische Kulturhauptstadt 2025, der Purple Path ihr kulturelles Programm in der Region – eben Chemnitz Plus. So liest man auf der Website des Fördervereins FreundInnen der Europäischen Kulturregion, die mittlerweile 38 kunstwillige Gemeinden umfasst – von A wie Amtsberg bis Z wie Zwönitz. T wie Thalheim, da dürfte es beim eingefleischten Kunstfan durchaus schon klingeln. Die feierliche Eröffnung des Purple Path im vergangenen August samt Skulptureneinweihung und urbanem Kunstfestival Begehungen hat auch international Wellen geschlagen.

Ein beinah surreales Highlight sei das gewesen, erinnert sich der 40-jährige Bürgermeister Nico Dittmann, der vielleicht einer der aktivsten Schnittstellenbauer zwischen Chemnitz und der Region, ja ein Treiber des Purple Path ist. "Ich stelle mir eine Vernissage in der Kunstmetropole Berlin steifer vor als das, was wir erlebt haben." Schließlich ist zur Einweihung von Friedrich Kunaths Skulptur zeitgleich zur Oma mit Rollator der Porsche vorgefahren, hat der Bürgermeister dem nach Kalifornien ausgewanderten, aber in Karl-Marx-Stadt geborenen Künstler am Ende eine Eierschecke im Supermarkt ausgegeben. So geht sächsisch. "Ja, in der Provinz hauen nicht alle wie die Nazis mit dem Löffel aufn Topf", so Dittmann entschieden.

Genau deswegen passt auch Kunaths Gruppenskulptur "Include me out" wie Arsch auf Eimer. Schließlich illustriert seine mannshohe Bronze den absurden Wunsch, gleichzeitig Teil einer Gemeinschaft und auch für sich zu sein. Was dialektische Konzeptkunst befürchten lässt, kommt bei Kunath als naiv- augenzwinkerndes Spiel daher: hier sechs vermenschlichte Tannenbäume, die sich an ihren hängenden Ästen bei der Hand nehmen. Und da eine beleidigte Baumleberwurst im Abseits. Wie man das jetzt finde, so Dittmann, sei jedem selbst überlassen. Kunst lasse sich ja glücklicherweise nicht gleichschalten. Mittlerweile haben die Thalheimer den Platz um ihre Skulptur mit Blumen und Bänken erobert, finden Konzerte statt und wollen sogar Paare dort heiraten. So geht Kunst im öffentlichen Raum.