Morgens um acht in Dresden: Es herrscht reger Verkehr am Bischofsplatz. Am S-Bahn-Haltepunkt über der Straße stehen Dutzende Pendler, die Hände tief in den Jackentaschen vergraben. Die spätherbstliche Kälte buhlt mit dem grauen Himmel um den Tristesse-Pokal. Der Baustellencharme ringsum tut sein Übriges. Nur die Wände spielen nicht mit. Unzählige Graffiti-Tags in kunstvoller Verquickung leuchten von der ganzflächig besprayten Giebelfläche eines Gründerzeithauses. Farbstrotzende Graffiti, Comic- und Fabelwesen blitzen aus allen Winkeln der Auf- und Durchgänge des erst 2016 neu erbauten S-Bahn-Haltepunkts.
Was die beiden Schaufenster urbaner Kunst eint, ist, dass sie ihr kunstvolles Zustandekommen dem Verhandlungsgeschick einzelner Street-Art-Aktivisten der Stadt verdanken. Nachdem nämlich einige Akteure und Initiativen keine Lust mehr auf ein reines Nebeneinander in der sächsischen Landeshauptstadt hatten, beschlossen sie 2014, ihr Potenzial zu bündeln. Gemeinsam sollte etwas angeschoben werden, das die Urban-Art-Szene in Dresden intern besser vernetzen und sie mit Stadt und Bewohnern in Kontakt bringen könnte. Das "LackStreicheKleber"-Festival war geboren. Bald waren auch nichtkünstlerisch tätige Unterstützer mit an Bord, darunter die Kulturmanagerin Yvonne Bonfert.
Energisch schiebt sie an diesem nebligen Wintertag ihr Fahrrad durch das Baustellenlabyrinth. Mittlerweile ist sie Vorstandsmitglied des Festivalvereins und eine der Hauptorganisatorinnen des "LackStreicheKleber", kurz LSK. Beim wärmenden Kaffee erzählt die 31-Jährige von den zahlreichen Highlights aus fünf Jahren Urban-Art-Festivalgeschichte. Eines davon war die Kooperation mit dem Verkehrsverbund Oberelbe und der S-Bahn, in deren Rahmen 30 Künstler der lokalen Street-Art-Szene 2016 den besagten Haltepunkt "verkunstet" haben.
So wie hier geht es den "LackStreicheKleber"-Machern stets darum, regionalen Akteuren einen Rahmen zu bieten sowie mit Live-Aktionen, Street-Art-Führungen, Workshops und Co. möglichst niedrigschwellig Menschen aus verschiedenen Stadtteilen zu erreichen. Während in Dresden der Fokus häufig auf dem Althergebrachten liegt, weht mit der Urban Art, die schon von sich aus etwas Rebellisches hat, frischer Wind durch die Stadt. "Diese Kunst hat das Potenzial, qua Ausdrucksform viele Menschen zu erreichen und Denkprozesse anzuregen", meint Yvonne Bonfert. Als "schnelle Kunstform" könne die Urban Art auch sofort auf aktuelle Dinge reagieren.
Zunehmend geht es dabei auch um die Einbindung akademischer Akteure. So war etwa beim letzten LSK erstmals das Dresdner Italienzentrum mit an Bord, italienische Street-Art-Künstler wurden zum Festival eingeladen, und es gab eine Ausstellung mit einem Urban-Art-Künstler aus Florenz. Mit "Perform the Urban Art" rückt seit letztem Jahr auch die Performance-Kunst in den Fokus und schiebt den Qualitätsdiskurs von "LackStreicheKleber" weiter an. Jens Besser, LSK-Organisator und einer der umtriebigsten Street-Art-Künstler der Landeshauptstadt, sieht in dem Bereich noch jede Menge ungenutztes Potenzial. Er möchte den "Anspruchsdiskurs" zur Urban Art vorantreiben. Außerdem schwebt ihm eine Artothek mit gesammelter Street-Art-Kunst vor – bevorzugt in einem der weniger subkulturaffinen Viertel der Stadt, etwa in einer "Platte" in Gorbitz.
In Chemnitz gibt es so etwas bereits – allerdings institutionell betrieben von der Neuen Sächsischen Galerie/Museum für zeitgenössische Kunst. Das eigentliche Aushängeschild für Urban Art geht im Chemnitzer Raum allerdings von anderer Seite aus: Die Industriebrachenumgestaltung, kurz "ibug", lockt seit 13 Jahren alljährlich stetig wachsende Künstler- und Publikumsgruppen in westsächsische Industriebrachen und mauserte sich zu einem der international bedeutendsten Festivals für urbane Kunst.
Alles begann hier damit, dass der Meeraner Künstler Tasso auf der Suche nach neuen Entfaltungsmöglichkeiten auf ein ehemaliges IFA-Werk stieß, in dem dereinst Trabbis hergestellt wurden. Bevor die Brache abgerissen werden sollte, erhielt er 2006 die Erlaubnis, sich dort künstlerisch auszutoben. Kurzerhand lud er auswärtige und befreundete Künstler ein – es entstand ein spontanes Künstlersymposium. Aus der Begeisterung, die sich daraus speiste, dass hier nicht nur Wände besprüht, sondern auch ortsbezogene Objektkunstwerke geschaffen werden konnten, entstand dann die Idee eines regelmäßigen Festivals.
Jedes Jahr zieht die Karawane nun zu einer anderen Industriebrache und veranstaltet ihr Kunstfestival an zwei aufeinanderfolgenden Wochenenden im Spätsommer. Zuletzt war es die ehemalige VEB Nadel- und Platinenfabrik "Textima", die von gut 80 Künstlern aus 17 Nationen kreativ umgestaltet wurde. Für die Künstler und ehrenamtlichen Helfer ist die "ibug" ein großes Netzwerktreffen mit Happeningcharakter – schlafen und leben sie doch vorab gemeinsam in improvisierten Indoorcamps direkt in den Industriedenkmälern. Drumherum gibt es für die Gäste Konzerte, Podienformate, Performances und den großen Street-Art-Markt.
Mit gut 19 000 Besuchern blieb man 2018 vermutlich nur deshalb knapp unter der 20 000er-Marke, da just während der Festivalzeit die Stadt Chemnitz wegen ausländerfeindlicher Ausschreitungen in die Schlagzeilen geriet. Dieser traurigen Entwicklung setzt das Festival mit Internationalität und Weltoffenheit bewusst klare Signale entgegen. Thomas Dietze, "ibug"-Projektleiter und freier Fotograf, betont allerdings, dass man den Künstlern so viel Freiheit wie möglich lasse und lediglich eine inhaltliche Stimmigkeit berücksichtige. Auf die Frage, wie denn ihr Urban-Art-Projekt gerade im ländlichen westsächsischen Raum und vor allem auch institutionell angenommen werde, meint der 31-Jährige: "Nach 13 Jahren kann man sagen, dass sich der Blick eindeutig verändert hat. Mittlerweile wird das, was wir machen, zu hundert Prozent als Kunst wahrgenommen. Das war nicht immer so." Street-Art wird eben salonfähig. Das spürt man allerorten.
Dennoch trägt Yvonne Bonfert aus Dresden die gleichen Sorgen vor, die auch "ibug"-Veranstalter Thomas Dietze umtreiben: Die Projekte müssen sich dringend wirtschaftlicher aufstellen. Allein durch ehrenamtliches Engagement lassen sich die wachsenden Festivals nicht dauerhaft auf dem hohen Niveau halten. Eine planungssicherere Finanzierung abseits des alljährlichen Förderantragsmarathons wäre also dringend nötig. Bei der "ibug" laufen die Planungen für 2019 bereits auf Hochtouren. Dann wird eine Industriebrache im vogtländischen Reichenbach ihr künstlerisches Wiedererwachen feiern.
Das "LackStreicheKleber"-Festival legt 2019 eine Pause ein, geht in Klausur, um dann 2020 gut aufgestellt in eine neue Runde zu starten. "Ideen und Visionen gibt es viele, schauen wir mal, was wir daraus machen", erklärt Yvonne Bonfert zum Abschied und entschwindet in den kalten Vormittag.
Infos über das Projekt "DRS GATEWAY" von MadC am Dresden International Airport