Sommerschau in der Bourse de Commerce

Ein illusionsloser Blick auf die Welt

Menschen erschaffen Schönes und ruinieren gleichzeitig die Welt um sich herum. Die Schau "Le monde comme il va" in der Bourse de Commerce in Paris lässt dieses Paradoxon vom Who is Who der Gegenwartskunst bearbeiten

Die Wolkenformation auf einem Bild von Anne Imhof scheint sich bedrohlich auszubreiten wie in einem Katastrophenfilm. Imhofs fast fünf Meter breites, aus drei Leinwandtafeln zusammengesetztes Hybridwerk "Untitled" (2022) aus Druck und nachträglicher Malerei basiert auf der Computersimulation einer atomaren Wolke. Die deutsche Künstlerin greift auf ein beliebtes Sujet der Landschaftsmalerei zurück. Wie ein Caspar David Friedrich ergötzt sie sich an Wolken, die bei ihr von schrecklicher Schönheit sind: Menschengemacht, von der Bombe entfesselt. 

Drei Werke von Anne Imhof sind zurzeit in der Pariser Bourse de Commerce zu sehen, neben hochkarätigen Arbeiten vieler weiterer Kunstschaffender, darunter Marlene Dumas, Jeff Koons, Cindy Sherman, Rosemary Trockel – ein Who is Who der Gegenwartskunst von den 1980ern bis in die jüngste Zeit. Die Werke stammen aus der Sammlung des französischen Unternehmers François Pinault, der das frühere Börsen-Gebäude ab 2016 nach Plänen von Tadao Andō zu einem Museum umbauen ließ. Mit rund 3000 Quadratmetern Ausstellungsfläche ist die Bourse de Commerce – Pinault Collection das größte Museum des schwerreichen Sammlers, der mit der Punta della Dogana und dem Palazzo Grassi in Venedig bereits zwei Ausstellungshäuser betreibt.

Es sei ihm nie darum gegangen, mit seiner Sammlung die Kunstszene "vollständig" oder "objektiv" abzubilden, hat der 62-Jährige kürzlich in einem "Figaro"-Interview erklärt. Er sei "auf der Suche nach Exzellenz" und möchte "möglichst vielen Menschen die Möglichkeit geben, den Reichtum und die Vielfalt des zeitgenössischen Kunstschaffens zu ermessen", sagte Pinault. Der Kurator Jean-Marie Gallais hat die nicht ganz leichte Aufgabe übernommen, eine Schneise durch die vielgestaltige Kollektion zu schlagen. Die Ausstellung "Le monde comme il va" beruht auf dem Gedanken, dass die Kunst einen von Illusionen ungetrübten Blick auf "die Welt, wie sie ist" wirft – dass Kunstschaffende ein „gesteigertes Bewusstsein für die Gegenwart“ an den Tag legten, wie Gallais erklärt.

Eine Absage ans Schwarz-Weiß-Denken

Der Ausstellungstitel stammt aus einer Erzählung des großen Aufklärers Voltaire. Darin schicken die Götter einen Gesandten auf die Erde, weil sie die Menschheit nicht mehr verstehen: "Unerklärliche Menschen! Wie können sie soviel Niedertracht und Größe, Tugenden und Verbrechen in sich vereinen?" Die Antwort ist eine Absage an das Schwarz-Weiß-Denken. Der Mensch bestehe aus Exzessen und Paradoxien, erklärt der Gesandte nach seiner Rückkehr den Göttern, die Menschheit befinde sich im prekären Gleichgewicht, das sei nun mal "die Welt, wie sie ist".

Die Präsentation zieht sich wie eine Spirale hinauf bis zum zweiten Stock des Gebäudes und ist in acht Segmente unterteilt. "Plötzlich diese Übersicht" ist ein Raum überschrieben – und das ist so ironisch gemeint wie der gleichlautende Titel der berühmt-witzigen Kleinskulpturenserie des Schweizer Duos Fischli & Weiss, von der sich ein Teil (der insgesamt 350 Tonskulpturen) in der Sammlung befindet. Darunter die "Freie Marktwirtschaft" – ein Hauen und Stechen anonymer Knetfiguren –, die einen scharfen Kontrast zum historischen Fresko in der Rotunde bildet, eine Verherrlichung von Kapitalismus und Kolonialismus aus dem 19. Jahrhundert.

Unter das Fresko (und die Glaskuppel) baute Tadao Andō einen spektakulären Betonring, der die alten Türen und Rundbögen ausblendet und einen neutralen Ausstellungsraum schafft. Den Boden ließ die koreanische Künstlerin Kimsooja mit Spiegelglas auslegen. Das schwindelerregende Environment ist Teil ihrer Soloschau "To Breathe – Constellation". Dazu zählen auch ihre "Bottari"- Stoffbündel mit Alltagsdingen oder Nahrungsmitteln, die für den Heimatbegriff der Nomadin stehen: "Heimat ist kein geografisch definierbarer Ort, sondern ein Bewusstseins- und Zugehörigkeitszustand", hat Kimsooja einmal gesagt. Mit ihren armen Materialien verweist die Ausstellung schon auf die "Arte Povera"-Schau der Gastkuratorin Carolyn Christov-Bakargiev, die ab 9. Oktober in der Bourse de Commerce zu sehen sein wird und die Werke von Giovanni Anselmo, Alighiero Boetti, Luciano Fabro, Jannis Kounellis, Mario et Marisa Merz, Giuseppe Penone, Michelangelo Pistoletto und anderen umfasst. 

Kunst, Liebe und Politik

Kimsoojas ephemere Werke sind eine Welt für sich, was uns zurück zur parallelen "Le monde comme il va"-Ausstellung führt. Jeff Koons’ riesige Ballonskulpturen aus verspiegeltem Stahl oder Damien Hirsts Medikamentenschrank "The Fragile Truth" sind Beispiele aus den 1990ern – einer Zeit, in der Pinaults Leidenschaft für zeitgenössische Kunst geweckt wurde. Mehr noch als die Pop-Art der 1960er verwischten sich in jenen Jahren die Grenzen zwischen Kunst, Massenmedien, Marketing und Mode. Dafür stehen in der Abteilung "Kunst, Liebe und Politik" auch die Werke der Gruppe General Idea oder von Robert Gober.

Im größten Raum der Schau rollen alte Männer – Offiziere, Geistliche, Politiker – auf elektrischen Rollstühlen herum und rempeln das Publikum an: Eine Monstrositätenchoreografie zwischen Allmacht, Egozentrik und Senilität des chinesischen Duos Sun Yuan & Peng Yu. In derselben Abteilung, "Die menschliche Komödie", sind Malereien des jungen, heute in den USA lebenden Pakistani Salman Toor zu sehen, der zurzeit auch auf der Venedig-Biennale vorgestellt wird. Toor porträtiert das ausgelassene bis prekäre Leben von queeren Muslimen. 

Durch seine Bilder schimmert eine Spur von (erlebter) Gewalt, die im Ausstellungssegment "Making ruins" (Ruinen bauen) manifest wird. Bei Bertrand Laviers "Dino" (1993) handelt es sich um einen verbeulten Ferrari, den Lavier sich vom Schrottplatz holte. In Anlehnung an Duchamps Readymades sprach der Künstler von "ready-destroyed". Menschen schaffen schöne Dinge, und Menschen produzieren Müll. Sie sind inzwischen dabei – siehe auch Anne Imhofs Atomwolke –, den ganzen Planeten zu ruinieren. Kein Wunder, dass die Götter die Welt nicht mehr verstehen.