Biennale-Konzept 2022

Die Milch, aus der die Träume sind

Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani
Foto: Courtesy La Biennale di Venezia

Biennale-Kuratorin Cecilia Alemani

Über nichts lässt sich schöner rätseln und spotten als über Großausstellungs-Titel. Nun hat die Venedig-Biennale 2022 ihr Motto "The Milk of Dreams" vorgestellt - und will den ganzen Planeten nähren

Über die Kalenderspruchhaftigkeit von Biennale-Titeln ist schon so viel gegrübelt und gespottet worden, dass es inzwischen Wer-hat's-gesagt-Ratespiele und Online-Generatoren für wohlklingende Ausstellungsnamen gibt (Ergebnis einer spontanen Stichprobe: "Postcolonial Properties: John Waters and Complacency". Klingt gar nicht so unwahrscheinlich ...). Es ist aber auch nicht ganz einfach. Schließlich muss ein Motto für ein Weltkulturereignis gleichzeitig Offenheit für verschiedene künstlerische Ansätze bieten, dem Fachpublikum Komplexität suggerieren und als PR-Slogan für den Kunsttourismus taugen. 

Nun wurde der Titel der Hauptausstellung für die verschobene Venedig-Biennale 2022 bekanntgegeben. "The Milk of Dreams" mag im ersten Moment an die Werbebotschaft eines klimaneutralen Getreidemilch-Start-ups erinnern, bezieht sich aber auf ein Kinderbuch der britisch-mexikanischen Malerin Leonora Carrington (1917 bis 2011).

In den 1950er-Jahren tapezierte die Surrealistin ihr Haus mit Zeichnungen von wundersamen Kreaturen - einem blendend schönen, aber gemeinen Jungen mit einem Hauskrokodil, Senor Mustache mit zwei Gesichtern inklusive zwei Schnurrbärten oder einem bunt gemusterten Monster mit einem schwarzen Geburtstagskuchen. Aus einem Notizbuch, in dem Carrington ebenfalls Zeichnungen und kleine Geschichten für ihre Kinder verewigte, entstand schließlich das eklektische Werk, das das "New York Journal of Books" als Mischung aus Roald Dahl, illustrierten Fabeln und Lagerfeuergeschichten bezeichnete.

Keine Flüssigkeit ist so aufgeladen wie die Milch

"Carringtons Erzählungen beschreiben eine freie Welt, die vor Möglichkeiten übersprudelt", heißt es in der Mitteilung der Biennale zu ihrem neuen Titel. "Aber sie sind auch eine Allegorie auf ein Jahrhundert, das unerträglichen Druck auf das Individuum ausgeübt hat." Kuratorin Cecilia Alemani will in ihrer traummilchigen Ausstellung in den Giardini und im Arsenale offenbar die ganz großen Fragen der Gegenwart verhandeln: "Wie verändert sich die Definition des Menschen? Was macht das Leben aus und was unterscheidet Tiere. Pflanzen, Menschen und Nicht-Menschen?", wird sie in dem Pressestatement zitiert. "Die Ausstellung fokussiert sich vor allem auf drei Themen: die Repräsentation von Körpern und ihren Metamorphosen; die Beziehung zwischen Individuen und Technologien; die Verbindung zwischen Körpern und der Erde." 

Während sich das letzte Biennale-Konzept "May You Live in Interesting Times" von Ralph Rugoff vor allem auf politische Ausnahmezustände in der irdischen Wirklichkeit bezog, klingt "The Milk of Dreams" nach der kosmischen Multispezies-Erzählung à la Donna Haraway, die in der Kunst gerade die dominante ist. Darin geht es um drängende Themen wie Klimakrise, koloniales Erbe, technischen Fortschritt und hybride Identitäten, das ganze bewegt sich jedoch auch in spirituellen Sphären, die manche für eine nötige Abkehr von der kapitalistischen Wachstumsideologie und andere für eskapistischen Animismus-Kitsch halten. Mit dem Verweis auf die Fantastik behält sich Cecilia Alemanis Ausstellungskonzept vor, die Kunst in ihrem eigenen Universum spielen zu lassen. Anders als der etwas seichte Biennale-Titel "Viva, Arte, Viva" von 2017 enthält "The Milk of Dreams" aber auch den Anspruch, den Kanon herauszufordern und konkrete politische Bezüge zu schaffen. Wie viele Malerinnen des 20. Jahrhunderts stand Leonora Carrington Zeit ihres Lebens im Schatten ihrer männlichen Kollegen, in den 1970er-Jahren war sie außerdem Teil des Women's Liberation Movement in Mexiko. 

Und die Milch? Wohl keine Flüssigkeit auf dieser Erde ist derart poetisch aufgeladen und so stark mit Körpern und einer Idee des Nährens und Umsorgens verbunden. Der Orangensaft, die Cola oder der Grüne Tee der Träume kämen wohl kaum als Ausstellungstitel infrage. "The Milk of Dreams" transportiert auch die Möglichkeit, dass Kunst eine sättigende, wenn auch nicht vegane, Substanz ist, die aus Träumen herausfließt. Milch hilft auch gegen Tränengas in den Augen. Hätte schlimmer kommen können.