Biennale Gherdëina in Südtirol

Im Reich der Murmeltiere

Was bedeutet es heute, wild zu sein? Dieser Frage will die neunte Ausgabe der Biennale Gherdëina im Südtiroler Grödnertal auf den Grund gehen. Dabei lebt sie von den Sagen und Traditionen, der Natur und den Sprachen der Region

Vor dem Bürogebäude der Biennale Gherdëina in Pontives flattert ein sechs Meter hohes Alpensegel im Wind. Das Kollektiv Atelier dell’Errore, 2002 von dem Italiener Luca Santiago Mora gegründet, hat es für die diesjährige Ausgabe der Kunstschau geschaffen – aus Wärmedecken, die ursprünglich zum Schutz von Migrantinnen und Migranten an der Mittelmeerküste eingesetzt wurden. Jetzt erinnern die bunt bemalten Folien vage an das tropische Meer, das sich einmal dort befand, wo heute majestätische Dolomit-Monolithen und schneebedeckte Berggipfel in den Himmel ragen.

Die idyllische Kulisse ist Schauplatz der Biennale Gherdëina, die am vergangenen Wochenende im Südtiroler Grödnertal eröffnete. 2008 von der Galeristin Doris Ghetta ins Leben gerufen, findet sie seither im Zweijahrestakt statt – in diesem Jahr unter dem Titel "Das Parlament der Murmeltiere". Kuratiert wurde die neunte Ausgabe der Kunstschau von Lorenzo Giusti, Direktor der Galleria d'Arte Moderna e Contemporanea in Bergamo, und Marta Papini, die vor zwei Jahren an der Venedig-Biennale mitarbeitete. Das Team hat sich für seine Ausstellung von den Sagen, Traditionen, der Natur und den Sprachen Ladiniens inspirieren lassen. So geht auch der Titel auf einen ladinischen Mythos zurück: Er handelt von den Fanes, der Urbevölkerung der Region, die einst in friedvoller Allianz mit den Murmeltieren lebten.

Der österreichische Schriftsteller Karl Felix Wolff hat die Legenden der Fanes Anfang des 20. Jahrhunderts auf rund 800 Seiten niedergeschrieben, doch es geht auch in Kurzfassung: Plötzlich war einer Fanes-Prinzessin das Zusammenleben mit den Murmeltieren peinlich, es kam zum Zerwürfnis zwischen Tieren und Menschen – und damit unweigerlich zu Konflikten, Unglück, Armut und dem Untergang des gesamten Fanes-Volkes. Nur ein kleiner Teil der Überlebenden zog sich in eine Höhle unter den den Felsen zurück, in der sie bis heute mit den Murmeltieren auf ihre Wiedergeburt warten sollen.

Elemente der Natur in ihrer freiesten und wildesten Dimension

"Der Glaube, der den Dolomitenlegenden zugrunde liegt, hat tiefe Wurzeln, die bis in die Urgeschichte zurückreichen", so Lorenzo Giusti. "Es handelt sich um totemistische Strukturen, die von der komplexen Beziehung dieser archaischen Gesellschaften zu ihrer Vorstellung der Seele erzählen, deren Präsenz alle wichtigen Elemente der lebendigen Natur in ihrer freiesten und wildesten Dimension durchdringt."

Mit seiner Ausgabe der Gherdëina-Biennale will er Fragen nach Freiheit, Wildheit und Überlebensformen stellen: Was bedeutet es heute, "wild" zu sein? Wo können wir noch eine Form von Natürlichkeit erkennen, auf einem Planeten, auf dem es keine unberührten Orte mehr gibt? Und welche Lehren lassen sich aus diesen Realitäten ziehen? Welche Räumen lassen die Ruinen des Kapitalismus für die Natur übrig? Welche Möglichkeiten des Lebens und welche Formen des Überlebens?

Knapp 40 künstlerische Positionen aus Europa, Nordafrika und dem Nahen Osten hat der Italiener im Val Gherdëina zusammengengebracht, um diese Fragen zu ergründen, darunter Alex Ayed, Nassim Azarzar, Ismaïl Bahri, Julius von Bismarck, Nadia Kaabi-Linke, Femmy Otten, Sara Ouhaddou und Eva Papamargariti. 19 der Werke sind als ortspezifische Auftragsarbeiten für die Biennale entstanden.

Hommage an Lin May Saeed

Dass Lorenzo Giusti und Marta Papini die deutsch-irakische Künstlerin Lin May Saeed zur Schirmfrau ihrer Schau erkoren haben, ist wenig verwunderlich. Die im vergangenen August im Alter von nur 50 Jahren verstorbene Bildhauerin und Aktivistin beschäftigte sich in ihrem Werk zwei Jahrzehnte lang mit dem Verhältnis von Mensch und Tier. In Skulpturen, Reliefs, Scherenschnitten und Installationen ergründete sie die Ausbeutung von Tieren, die Zerstörung ihres Lebensraumes, ihre Befreiung – und die Möglichkeiten der Utopie einer friedvollen Koexistenz von Spezies.

Lin May Saeeds Retrospektive in der Sala Trenker, benannt nach dem legendären Filmemacher und Bergsteiger Luis Trenker, eröffnet den Kunstparcours in St. Ulrich. Gleichzeitig findet ein zweiter Teil, "Think Like A Mountain", im GAMeC in Bergamo statt. Die Schau in St. Ulrich beleuchtet die Beziehung zwischen Mensch und Tier in einer neuen, erzählerischen Dimension, die auf Mythen, Märchen und Legenden zurückgreift.

Die Straße etwas weiter hinunter, vor dem rot angestrichenen Familien-Spa-Hotel Cavallino Blanco, befindet sich die erste von der Biennale in Auftrag gegebene Arbeit: die Installation "Beetle on a Horse" von Julius von Bismarck. Der Künstler, der bereits im vergangenen Jahr in der Bremer Innenstadt mit "The Elephant in the Room" die Idee des Denkmals dekonstruierte, geht hier noch einen Schritt weiter. Auf dem Rücken eines auf einem Sockel stehenden Pferdes sitzt – anstelle eines siegesreichen Eroberers – ein Borkenkäfer.

Nordafrika und die Dolomiten

Hebt man den Blick und schaut zwischen den Häuserschluchten hinauf, wird deutlich, worauf der Berliner Künstler hinauswill: Der Schädling hat in den vergangenen Jahren ein verheerendes Werk in den Südtiroler Waldgebieten angerichtet. 2022 stellte die Südtiroler Landesregierung ganze 20 Millionen Euro für die Bekämpfung der Plage bereit. Oder thematisiert er damit vielleicht viel eher den Menschen als eine der größten Plagen seiner Umwelt?

Auch Ruth Beraha, Chiara Bersani, Alessandro Biggio, Esraa Elfeky, Daniele Genadry, Michael Höpfner, Nadia Kaabi-Linke, Linda Jasmin Mayer, Sara Ouhaddou, Eva Papamargariti, Markus Vallazza + Martino Gamper und Karin Welponer haben ortsspezifische Arbeiten geschaffen – Gemälde, Zeichnungen, Installationen, Sound- und Videoarbeiten.

Der französisch-marokkanische Künstler Nassim Azarzar hat die Außenfassade des historischen Hotels Ladinia im Zentrum von St. Ulrich in eine leuchtend bunte Farbenwelt mit abstrakten Codes verwandelt. Die Darstellungen, Resultat eines langjährigen Forschungsprojekts in Marokko, verknüpfen die Formen- und Farbenwelt Nordafrikas mit den Geschichten und der Landschaft des Dolomitengebirges.

Castello Gardena und Installationen umgeben von Grün

Ein weiterer Ausstellungsort ist das Castel Gardena, das man nur zu Fuß erreicht. Hier oben, bei der mittelalterlich anmutenden Fischerburg, trifft man auf Skulpturen von Femmy Otten und Tobias Tavella. Die portugiesische Künstlerin Diana Policarpo hat den alten Brunnen in der Mitte des Innenhofs in eine transluzente Skulptur mit Soundinstallation verwandelt, die in ihrer Gestalt einem fleischfressenden Tiefseeschwamm gleicht. "Anguane’s Fountain" ist eine Hommage an die fließenden Formen der Anguanes, weibliche Figuren der ladinischen Mythologie, die mit Wasserquellen und Teichen assoziiert werden.

In direktem Dialog mit der Natur sind die Werke von Arnold Holzknecht und Ingela Ihrman entstanden: Im Anna-Tal in St. Ulrich, gelegen an einem kleinen Fluss, hat der gebürtige Grödner Holzknecht zwei gegenüberstehende Skulpturen geschaffen – einen weißen und einen schwarzen Wolf, die spielerisch die Nasen aneinanderstoßen. Sie repräsentieren die gegensätzlichen Positionen in Bezug auf die Rückkehr des Wolfes in die heimischen Wälder und sind in ihrer formalen Ausführung der historischen Spielzeugproduktion im Grödnertal entlehnt.

Nach einer rund 30-minütigen Wanderung über grüne Wiesen erreicht man in der Nähe der Juac-Hütte die Installation "First Came the Ocean" der schwedischen Künstlerin Ingela Ihrman. Die 25 Meter lange Arbeit aus Stämmen und Ästen lokaler Bäume, die durch die Borkenkäferepidemie geschwächt wurden und umgestürzt sind, erinnert an ein gigantisches Skelett eines Meerestieres – und damit an die Zeit vor 250 Millionen Jahren, als die Wiesen hier oben noch Meeresgrund waren.

Wiedergeburt der Murmeltiere

Wer sich übrigens gefragt hat, ob man denn jetzt im Val Gherdëina auch ein Murmeltier zu Gesicht bekommt: Ja! Sogar gleich mehrere. Sie befinden sich in den umfunktionierten Büroräumen der Biennale in Pontives, in denen auch die Arbeiten von Laurent Le Deunff und Eva Giolo zu sehen sind, und stammen wie das Alpensegel im Außenbereich von Atelier dell’Errore. 

In mehreren Zeichnungen und Arbeiten, in denen Wärmedecken als Trägermaterial verwendet wurden, widmet sich das Kollektiv ausschließlich verschiedenen Murmeltierarten. Darunter gibt es auch eine Zeichnung mit dem Titel "Murmeltier-Punk". Sollte das die Wiedergeburt dieser Wesen darstellen, können wir uns auf jeden Fall darauf freuen.