Auch nach mehrmaligem Durcharbeiten lässt einen dieses Buch noch einigermaßen orientierungslos zurück. Hier sind Ecken ab – oder Halbkreise ausgeschnitten, dort verlaufen die Seitenkanten in Wellenmuster, mal sind die oberen Ränder der Seiten zickzackig abgekappt, zwischendurch eröffnen sich unverhofft ganze Bildpanoramen, wenn man die eingeklappten Doppelseiten entfaltet. Und überall knallt und krisselt und flirrt es, bis die Netzhaut in so einen wohligen Überforderungsmodus schaltet. Ein bisschen wie mit den 3D-Bildern, aus denen man mit gekonntem Blick in den 90er-Jahren Motive hervortreten sehen konnte, ergeben auch diese Ansichten in dem Moment Sinn, wenn man just geglaubt hat, nun völlig den Überblick verloren zu haben.
Dann schälen sich plötzlich Wohnzimmer, Schlafkojen oder prächtige, parkähnliche Gartenanlagen aus dem Konvolut an Mustern, Farben und Dekoren. Wobei die so freigelegten Interieurs im besten Falle eventuell auch bloß noch mehr Fragen aufwerfen, als sie beantworten. Wer wohnt da? Und wohnen die wirklich so?
“The Best of Nest” ist Coffee-Table-Book gewordene Hommage an das namengebende Magazin von Designer, Fotograf und Buchmacher Todd Oldham sowie Ideengeber, Künstler und Tausendsassa Joe Holtzman, 1997 zum ersten Mal verkauft und bereits 2004 wieder eingestellt. In dieser kurzen Spanne wurde Nest zum verehrten und mit Preisen überhäuften Lieblingsheft für alle, die Homestorys liebten, aber etwas anderes suchten als den gebügelten Look der Hochglanz-Magazine (die Holtzman im Übrigen innig liebte).
Die visuelle Orientierungslosigkeit war Programm, wie Oldham, der seinem Freund alle kreativen Freiheiten bei der Gestaltung des Magazins ließ, im Vorwort zum Buch notiert: "Fotos für 'Nest' zu schießen war eine tolle Sache, aber zu sehen, was Joe mit meinen Bildern machen würde, war der große Nervenkitzel." Manchmal drehte der Oldhams Fotos, um die physische Form des Magazins aufzugreifen, oft versah Holtzman die Bilder auch mit "aggressiven Grafiken".
16 Repliken von Michelangelos "David"
Neben der Gestaltung feierte man auch in der Auswahl der besuchten Protagonisten fröhliche Anarchie. Ein Hausbesuch bei der zwischenzeitlich in die Jahre gekommenen Vegas-Showlegende Liberace gehörte ebenso zum Programm wie jener bei Gefängnisinsassinnen in New Mexico, aufbereitet von Fotografen-Autoren-Duos, zu denen auch schon mal Nan Goldin oder Patti Smith zählten. Man sieht die von Keith Haring gestaltete Herrentoilette im New Yorker Gay and Lesbian Community Services Center und das Zuhause von Sänger Norwood Young, der seine Villa in Los Angeles‘ Nachbarschaft Hancock Park komplett weißelte, Bäume fällen ließ und an ihrer statt 16 Repliken von Michelangelos "David"-Statue im Hof aufstellte.
Einmal besuchte Joe Holtzman seinen Freund Andre Léon Talley, damals Chefredakteur der US-amerikanischen "Vogue", im Lennox Hill Hospital auf Manhattans Upper East Side und erkannte sogleich die visuelle Armut, mit der sich der ästhetisch sensible Mann hier zu umgeben hatte. Kurzerhand staffierte Holtzman das Krankenzimmer mit üppigen Stoffen, Hèrmes-Decke, Diana Vreeland-Porträt und einem Gemälde von Pierre Bonnard aus, ließ das Ganze fotografieren und veröffentlichte das Zuhause auf Zeit unter dem Titel "This is a genuine emergency!"
Für jeden mehr oder weniger berühmten Namen gab es Einrichtungen unbekannter Bewohner. Man sieht Interieurs in Aufruhr, in der Unordnung oder Platzmangel zu ultimativen Stärken umgedeutet werden. Viele scheinen einer anderen Welt zu entstammen: Schlafkojen wie Opiumhöhlen der neuen Zeit, ausgekleidet in Coca-Cola-Rot, und Schlafzimmer, in denen ein erwachsener Mann unter Hunderten Augenpaaren von Farah Fawcett schläft – selbst der Sitzsack vor seinem Bett trägt das zerknautschte Konterfei seines angebetetenen Stars. Oder jenes Haus, das sich komplett unter künstlichem Himmel befindet, Gartenanlage mit Filzrasen und Swimmingpool inklusive.
Diese Haus gewordene Atom-Angst
Das "Venetian" in Las Vegas ist nichts gegen diesen Pastiche-Horror, diese Haus gewordene Atom-Angst, die Autor Tom Vanderbilt so schön beschreibt: "Unter der Erde ist’s besser: Kein Staub, keine Eindringlinge oder Überraschungsbesucher, niedrige bis verschwindende Verbrauchskosten, ein Hinterhofpool ohne Algen (ohne Chlor), kein unberechenbares Wetter (gar kein Wetter), kein Gras zu mähen und keine Blätter zu rechen. Weniger radioaktiver Fallout."
Mit seiner exzentrischen Auswahl verkörperte "Nest" das glatte Gegenteil jener idiosynkratischen Wohnmagazinlandschaft der 90er-Jahre, in der auch verstörende oder hochgradig verwirrende Interieurs ihren Platz hatten. Aus aktueller Betrachtung wiederum erscheint "The Best of Nest" als fabelhafte Gegenwelt der wohldosierten "Freunde von Freunden"-Wohnästhetik, wie sie heute beinahe gar nicht mehr anders denkbar scheint in einem gewissen kreativen Milieu oder zumindest eben in dessen öffentlich gemachter Darstellung. Last, not least schrieb "Nest" so eine beiläufige Parallelgeschichte von domiziler Selbstermächtigung jener Kreativen, die sich die Bilder, die sie schaffen und gestalten, mitunter selbst gar nicht leisten konnten und können. In der man bastelt, baut, improvisiert, oder im Zweifel eben die Blumen und Säulen nur aufmalt.
Es kommt nicht zu oft vor, dass ein Bildband in einer solchen Detail-Liebe dem Geist seines Sujets nachspürt. Vom außergewöhnlichen Seitenschnitt bis zu eingeprägten Glitzerfolien hat man hier beinahe alles gemacht, was sich ins Coffee-Table-Format übertragen lässt. Nur ein Detail der später aus dem Handel genommenen 22. Magazinausgabe wird hier nicht reproduziert: die Metallplatte, die Holtzman aufs Cover packte und damit nahezu das komplette ursprüngliche Motiv unkenntlich machte, soll mit ihren scharfen Kanten sogar für "moderaten Blutverlust" unter der treuen Leserschaft geführt haben.