Berlinale-Siegerfilm

Die Not der Sensenmänner

Mit seinem eindringlichen Episodendrama "There Is No Evil" hat der iranische Regisseur Mohammad Rasoulof verdient den Goldenen Bären der 70. Berlinale gewonnen

Die Bären-Bilanz für iranische Filmemacher der jüngeren Berlinale-Geschichte kann sich sehen lassen. 2011 gewann Asghar Farhadi mit "Nader und Simin", vier Jahre später Jafar Panahi ("Taxi Teheran") den Goldenen Bären. Auch Silber gab es für diese Regisseure, die trotz, mitunter auch aufgrund staatlicher Repressalien immer wieder starke Geschichten über ihr Land erzählen.

Nun hat die Berlinale-Jury ihrem iranischen Kollegen Mohammad Rasoulof den Hauptpreis des Festivals verliehen. Doch persönlich entgegennehmen konnte er die Trophäe am Sonntagabend nicht. Rasoulof teilt das Schicksal von Jafar Panahi, beide dürfen ihr Land nicht verlassen, beide sind mit Berufsverbot belegt. Trotzdem arbeiten sie weiter.

Seit 2017 darf Rasoulof eigentlich nicht mehr drehen, im Juli 2017 wurde er zu einem Jahr Gefängnis verurteilt, legte Berufung ein und nutzte die Wartezeit, um heimlich seinen großartigen siebten Spielfilm "There is No Evil (Es gibt kein Böses)" zu inszenieren. Inzwischen weiß der 48-Jährige, dass seine Berufung erfolglos war, er muss ins Gefängnis. Wann, weiß er nicht. So ist das im Iran.

Ein System, das neue Schuldige schafft

Dort wird auch die Todesstrafe verhängt, und zwar im globalen Durchschnitt besonders häufig. Davon handelt Rasoulofs neuer, mit dem begehrtesten deutschen Filmpreis ausgezeichneter Film. Von den 150 Minuten wird keine langweilig, denn der Regisseur weiß Alltagsvorgänge mit Spannung aufzuladen. Duschen, Einkaufen, Autofahren, Geburtstag feiern. In jede Episode seines Films zieht der Regisseur und Drehbuchautor einen doppelten Boden ein. Mit einer Falltür, im wahrsten Wortsinn. Füße verlieren den Halt, Hälse in der Schlinge brechen. Das ist keine Metapher, sondern ein Schockbild nach etwa 40 trügerisch ruhigen Filmminuten.

Rasoulof erzählt vier unabhängige, aber dramaturgisch verflochtene Geschichten, deren Figuren Todesurteile vollstrecken – oder von denen das erwartet wird. "There is No Evil" ist ein fesselndes Episodendrama über ein System, in dem die drakonische Strafe neue Täter schafft, Schuldige produziert, Familien ins Unglück stürzt und Beziehungen zerbrechen lässt.

Opfer sind im Grunde alle

Hershmat, Pouya, Javad, Bahram: Die vier Männer haben die Gesetze nicht geschrieben, die Urteile nicht gesprochen: Tod durch Erhängen. Aber sie sollen töten. Im Iran gehört das zu den Pflichten im Militärdienst. Einer der Protagonisten, der Soldat Pouya, weigert sich aber, den Hocker wegzuziehen. Pouya gelingt die Flucht, aber am Ende seiner Episode steht ein Fragezeichen: Was ist für den Todeskandidaten gewonnen? Das System bleibt erbarmungslos. Opfer sind im Grunde alle: die Vollstrecker und die Verurteilten. Letztere sind Randfiguren bei Rasoulof. Geschickt weicht der Filmemacher so der Schuldfrage aus. Welche Relevanz hat die Schwere der Schuld eines Menschen, wenn dieser hingerichtet wird? Die Schuld geht auf den Vollstrecker über, ein Rädchen in der Todesmaschine.

Rasoulof findet starke Bilder für die Bedrängnis, die Last. Ein Sack Reis, den Hershmat, der als Henker seine Familie ernährt, wie einen Leichensack herumträgt. Oder: Als Javad des irren Zufalls gewahr wird, dass er einen lieben Freund seiner Verlobten getötet hat, versucht er sich zu ertränken – in einer Art Waterboarding-Szene.

Die Episoden sind nicht austauschbar, jede Geschichte fügt dem Thema eine Facette, eine neue Perspektive hinzu. Und alle hängen unsichtbar zusammen. Was zum Beispiel passiert mit der Liebe, wenn einer tötet? Rasoulof erzählt auch Paargeschichten, erzählt von Eheleuten, die sich mit dem Töten arrangiert haben. Oder von einer Beziehung, die deshalb endet.

Eine Welt, in der man schuldlos schuldig werden kann

Am Schluss blickt eine Figur von außen auf die Lage: Die junge Darya (gespielt von Rasoulofs Tochter Baran) kommt zu Besuch aus Deutschland. Die finale Episode trägt biografische Züge, denn während der Regisseur im Iran festsitzt, lebt seine Familie in Hamburg, wo Rasoulof ein Haus besitzt. Darya besucht also ihren todkranken Onkel Bahram, der in Wahrheit ihr Vater ist. Als das herauskommt und Darya zugleich erfährt, dass Bahram in seiner Militärzeit "Hocker weggezogen" hat, reagiert die junge Frau mit Unverständnis und Wut. So jemand kann nicht ihr Vater sein, höchstens ihr Erzeuger.

Wir Zuschauer sind am Ende einen Schritt weiter, begreifen die Not der Sensenmänner. "There is No Evil" erschließt uns eine Welt, in der man schuldlos schuldig werden kann.