Wer sich vor Augen führen will, was durch Corona verloren gegangen ist, sollte an das Berghain denken. Der Techno-Club steht wie kaum ein anderer Ort für das libertäre Berlin, für Nähe, Körperlichkeit und Gelegenheitssex. Dass das Haus als Kulturgut gefeiert und geschützt gehört, dürfte mittlerweile auch der strengste Konservative im fernsten Süddeutschland begriffen haben. Wahrscheinlich stand der selbst schon in der legendären Schlange, drückte sich an den Türstehern vorbei und genoss die Nacht, berauschter als auf dem Oktoberfest, feierlicher als jede Christmette.
Die Stilllegung wegen des Covid-19-Risikos bringt das international gepriesene Berghain allerdings in Gefahr. Die mehr als 200 Mitarbeiter befinden sich offenbar fast alle in Kurzarbeit, und was der Unterhalt dieses ehemaligen Heizkraftwerks im Ortsteil Friedrichshain auch bei Nicht-Betrieb kostet, kann man sich vorstellen. Aus diesem deshalb nur scheinbar friedlichen Dornröschenschlaf wird das Berghain nun durch die Boros Foundation geweckt: Das Sammlerpaar Christian und Karen Boros will vom 9. September bis zur Wiedereröffnung des Clubs im gesamten Haus die Ausstellung "Studio Berlin" zeigen; mit Arbeiten von mehr als 85 in Berlin lebenden Künstlerinnen und Künstlern.
Das passt gleich auf mehreren Ebenen. Zum einen ist die Boros-Sammlung selbst in einem wuchtigen Beton-Bau untergebracht, in einem Hochbunker in Berlin-Mitte, der einst auch ein Techno-Club war. Zum anderen könnte diese Ausstellung der Selbstvergewisserung der zuletzt unsicheren Kunststadt dienen. Während die Staatlichen Museen zu Berlin sich einer quälenden Selbstprüfung unterziehen, und nachdem mehrere Privatmuseen geschlossen haben oder mit einer Schließung drohen, wackelt der Status der Hauptstadt als Kunst-Hotspot. Eigentlich sollte im September das Humboldt Forum eröffnen, was wegen Corona nicht passieren wird. Und die Kunstmesse Art Berlin, die ebenfalls immer im September stattfand, wurde schon vor dem Virus beerdigt.
Kardinaltugend des Post-Wende-Berlins
Dann also besinnen wir uns auf eine der Kardinaltugenden des Post-Wende-Berlins: die Umnutzung spektakulärer Architekturen. Und das Programm des Berghain hatte ja schon vor seiner jetzigen Schließung ein paar gediegenere Seitenarme ausgebildet. In den quasisakralen Hallen spielten nicht nur die besten DJs der Welt, hier tanzte sogar das Staatsballett, hier schufen Diskussionsabende und Auftritte sensibler Songwriterinnen Distanz zum wöchentlichen Unmittelbarkeitsexzess aus Sound, Körpern, Licht, Raum und Drogen.
Seit Jahren gehören Kunstwerke zur Einrichtung des Hauses: Arbeiten von Wolfgang Tillmans, Marc Brandenburg, Joseph Marr und Piotr Nathan erfreuen nicht nur MDMA-Euphoriker. Viele Flyer wurden von Künstlern gestaltet. Und 2014 waren anlässlich des zehnjährigen Jubiläums Arbeiten von Künstlern, die dem Berghain besonders verbunden sind, in einer großen Ausstellung zu sehen. Erst vor kurzem hatte die Singuhr-Hörgalerie mit dem Künstlerduo Tamtam eine Arbeit in einer bislang unzugänglichen Halle realisiert.
Bildende Kunst kommt in ihrer sinnlichen Fassbarkeit dem imaginär aufgeladenen Ort näher als die klischeebehaftete Berlin-Techno-Literatur der vergangenen Jahre. Wenn die durch die Pandemie geschwächten zentralen Instanzen des kulturellen Lebens dieser Stadt – Gegenwartskunst und Nachtleben – sich auf dieser Weise zusammenfinden und stützen, muss dabei Gutes entstehen. Das so erfolgreiche Prinzip von Zwischen- und Umnutzung, aus dem sowohl die Boros-Sammlung und das Berghain entstanden, ist zuletzt durch Bevölkerungszuwachs und dem daraus resultierenden Bauboom in den Hintergrund geraten. Corona bietet eine Chance, diesen Spirit neu zu beleben.
Nebenbei belebt diese Ausstellung vielleicht auch den alten Traum einer Kunsthalle, in der die künstlerische Produktion Berlin abgebildet wird. Wir stellen uns also schon mal an.