Ein einfacher mittelalter Mensch reist im Hochsommer von Berlin nach Bad Gastein im Salzburger Land. Man fährt auf Besuch für drei Tage. Und direkt bei der Ankunft reißen kleinere Verrücktheiten an der Wahrnehmung. Im Schatten des erhaben daliegenden Graukogels scheinen die Häuser direkt an dessen 2492 Meter hohen Hänge gekleistert. Nicht in die Breite, sondern in die Höhe ist hier gebaut und zugleich blitzen, wenn man durch das Dorf fährt, immer wieder großstädtische, gar utopische Bauelemente hervor: Belle-Epoque-Hotels wie das Grand Hotel de l’Europe, das zwar außer Betrieb ist, wie überhaupt einiges hier, aber dennoch mondän und zentral dasteht mit seinen maßlosen zehn Stockwerken.
Über sogar elf Etagen verfügt ein Parkhaus weiter oben liegend, und inmitten des pittoresken Dorfkerns liegt ein riesiges brutalistisches Kongresszentrum, ebenfalls außer Betrieb, auf dessen Dächern man wandert wie durch den ersten Roman "Paradiese der Sonne" von J.G. Ballard, in dem eine kleine Zahl letzter Menschen nach dem Klimakollaps ein sumpfiges Resteuropa bewohnt und schwer halluzinierend dabei zuschaut, wie sich die urzeitliche Vegetation alle Urbanität zurückerobert.
Man würde sich kaum wundern, wenn auch hier plötzlich Riesenleguane ihre Köpfe recken würden. Und etwas ganz Ähnliches geschieht dann auch. Beim ersten Weg durch die Gassen, von denen viele wie Filmkulisse wirken, lacht den Reporter plötzlich der österreichische Volksschauspieler Philipp Hochmair an. Es wird eine Filmszene gedreht auf offener Straße. Wir werden ihn noch öfters treffen in diesen Tagen.
All das zusammen ist ganz große Kunst
Ja, ist das hier ein Bergdorf, oder eine Stadt, man kommt nicht dahinter. Im Kern des Simulacrums braust mit ohrenbetäubendem Sound und monströser Kraft ein Wasserfall durch den Ort, den die nicht einmal 4000 Einwohner und dazu 9000 Touristen, die sich in Hochzeiten hier versammeln, in jedem Winkel permanent hören. All das zusammen ist ganz große Kunst.
Und einmal im Jahr gibt es mitten in all dem drin eben noch ein Kunst-I-Tüpfelchen, Kunst in der Kunst sozusagen. Neben angebotenen wochenlangen Künstlerresidenzen, zu denen man dringend raten möchte, findet zum 13. Mal die Sommerfrische statt, auch dieses Jahr nicht in white cubes (nichts läge in Bad Gastein ferner), sondern möglichst in größtem Kontakt mit Menschen und Natur.
Für diese Ausgabe haben die Hamburger Kuratorin, Sammlerin und Direktorin des Festivals, Andrea von Goetz, und ihr Team, einige bekannte und noch nicht so bekannte Künstlerinnen und Künstler in das ganz hervorragend abgewetzte "Monte Carlo der Alpen" geladen. Am Eröffnungstag ereignet sich das Kunst- und Gesellschaftsspiel auf der Kaiser-Wilhelm-Promenade, die der deutsche Herrscher sich hier bauen ließ, weil er in Ruhe lustwandeln wollte.
Mythos ums radioaktive Quellwasser
Aus dem Programm überzeugen besonders zwei Künstlergruppen, da sie sich explizit mit dem Charakter des Ortes auseinandersetzen: Pegasus Product präsentieren das "Pegasus Product Power Peckerl Paradies". Gehüllt in weiße Gewänder inszenieren sie mit auf dem Kopf angebrachten Brezel-Antennen eine Erfahrungslandschaft zwischen Psychotherapie und Sterndeutung. Man wird sachkundig und seriös befragt, später auf einer Liege lesen sie einem die Zukunft.
Die Künstlergruppe verspricht Heilung, Teilnehmer des Experiments zeigen sich schwer beeindruckt. Doch meint der Reporter auch einen Schalk im Nacken der Künstler zu entdecken, ihr Spiel scheint auch ein Spiel mit dem Mythos um das radioaktive Quellwasser, für das Bad Gastein seit Jahrhunderten berühmt ist und das in vielen Hotels zur Gesundung angeboten wird. Der Reporter und die Schauspielerin Bibiana Beglau werden kurz darauf von der sagenhaften und zudem ortskundigen Münchener Musikerin und Künstlerin Polina Lapkovskaja einige eher abseitige Pfade der Promenade entlanggeführt, in das verwunschene Hotel Villa Excelsior, das über besagte Quellwassertherapie verfügt, zudem über eine eigene Kapelle mit Beichtstuhl und eine verwunschene "Blaue Bar".
Aus jedem Stockwerk lässt sich hinaustreten, direkt ins Gestein, in den Berg. Man meint, es dort melodiös aus der Lunge pfeifen zu hören, das in die Ferne gerückte Leben im flachen Brandenburg erscheint einem fast sonderbar und verkehrt. Der Wirt erzählt, wie oft Sigmund Freud hier gewesen ist, wann Nietzsche, und wie alt man werden kann, wenn man nur in der rechten Körperlage das Quellwasser aufnimmt.
Alle waren sie ja schon hier
Draußen nimmt der Reporter natürlich sofort einige Schluck des warmen Elixiers aus einen schönen Brunnen, die es hier überall aus der Erde pumpen. Schon leicht wunderlich verstrahlt steht man direkt vor der weit in die Höhe ragenden zackigen Skulptur der Künstlerin Franziska Agrawal. Die andere, hier besonders begeisternde Künstlergruppe heißt Dorf, bestehend aus den Malern Dennis Buck, Andi Fischer, Michael Günzer und Conny Maier, die gemeinsam immer nur in ländlichen Gegenden Ausstellungen organisieren, um den Raum und die Fallhöhe zwischen Peripherie und Zentrum zu untersuchen.
Von Kleingeistigkeit und Kulturarmut in diesem Dorf keine Spur. Ihre Arbeiten, die im Zeichen des Tieres stehen, geben dem Ganzen einen rapiden Twist. Unter der illustren Gästeschar befindet sich auch eine Schriftstellerin, die über eine ganz unglaublich voluminöse Haarpracht verfügt und, so gibt jemand später zu Protokoll, aktuell in einem Buch Herrin zu werden versucht über all die Geschichten von Bad Gastein. Alle waren sie ja schon hier, Schubert, Liza Minelli, Falco, Grillparzer und Sisi schrieben Gedichte über Bad Gastein, und der Althipster Friedrich Liechtenstein hat dem Ort zuletzt mehrere Konzeptalben gewidmet.
Zum zweiten Mal findet im historischen Kraftwerk am donnerrauschenden Wasserfall auf drei Etagen die Kunstmesse Art:Badgastein statt, die durchaus funktioniert, wie am Ende des ersten Tages der Galerist Cornelis van Almsick bestätigt. Ein Highlight sind die feministischen Arbeiten von Ulrike Rosenbach in der Galerie Giesela Clement, und ein wenig Design gibt es auch. Der wunderbare grüne Esstisch aus den 80ern von Maurice Barilone, von dem es nur fünf auf der ganzen Welt geben soll, hat hier einen neuen Besitzer gefunden.
Aufstieg und Niedergang, Niedergang und Aufstieg
Doch wie überall dort, wo es sehr gut ist, macht auch vor Bad Gastein die Gentrifizierung (die wievielte es wohl sein mag) nicht halt. Es gibt allerlei Neues hier, was nicht immer so schön ist wie das Alte. Wenn Sie auch einmal hierher eingeladen werden, lassen Sie sich im Haus Hirt unterbringen, nächtigen Sie im Miramonte, und gehen Sie vor allem unbedingt ins Hotel Regina, das von einem so originalen Charme umgeben ist, und in dem auch zwei Dalmatiner wohnen.
Es ist ja kein Scherz, sondern die absolute Wahrheit, hier in Bad Gastein, wo alles ganz fantastisch wahr ist. Im Regina lässt sich an den golden umrahmten Panoramafenstern einer der schönsten Blicke genießen, diese Panoramen, die hier zugleich so weit herunter und hoch hinaus gehen, wie es dem Ort selbst immer wieder ergangen ist: Aufstieg und Niedergang, Niedergang und Aufstieg, bankrott und bergauf. Aktuell geht es bergauf. Es ist ein Ort zum Träumen, ein Europa in Kürze, ein herrlich unangestrengtes, abgetakeltes, weltmännisches Europa, das es in Deutschland niemals auch nur ansatzweise irgendwo geben wird. Bad Gastein macht einen sofort verliebt.
Ganz am Ende dürfen wir durch einen privaten Kontakt noch in das Grand Hotel de l’Europe, das Wes Anderson für seinen Film "The Grand Budapest Hotel" Modell gestanden hat, in den 80ern jedoch unaufhaltsam heruntergewirtschaftet wurde und nun einige Privatwohnungen beherbergt. In einer von diesen wurden 2019 die berühmten Bänder übergeben, die zur Ibiza-Affäre und dem Bruch der österreichischen Regierung führten.
Eine andere, schönere Realität
Über den Besuch dieses Zimmers darf der Reporter allerdings nichts erzählen, es herrscht Schweigepflicht, natürlich. Am Ende kraxeln wir die 1500 Meter hoch nach Sportgastein, der Wahnsinn am Berg, das voralpine Land, wo die freilaufenden Pferde so groß sind wie Dinosaurier und Kühe so gesund und schön wie im Bilderbuch. Die Wiesen bietet so viele shades of green, dass man gar kein Quellwasser mehr braucht, um auf die vorzüglichste Weise eine andere, schönere Realität zu erkennen. Man klettert bis zu den spektakulären Skulpturen von Olaf Holzapfel und Kazunori Kura, die sie in die Natur gestellt haben. Sie wehen anmutig im Wind.
Neu ist in diesem Jahr übrigens die KunstWanderKarte, entworfen und illustriert von Sebastian Meschenmoser. Man kann sie gut benutzen, aber man kann das natürlich auch lassen, denn, oh, es lässt sich leicht und gut verlaufen in diesem Kunst- und Zauberdorf.