Kunstinitiative Perasma auf Leros

Eine Ausnahmeerscheinung vor ewiger Bläue

Im Sommer für Ausstellungen auf griechischen Inseln zu flüchten, gehört inzwischen zum guten Ton des Kunst-Jetsets. Eine Gruppenschau auf Leros sticht jedoch durch ihr historisches Bewusstsein aus dem Programm heraus 

Ciceros Kopf auf einem kostbaren Mohairteppich. Auf den ersten Blick rätselt man, was das edle Stück an dem Holzgerüst in einer baufälligen Ruine aus dem späten 19. Jahrhundert in einem Dorf auf der Dodekanes-Insel Leros zu suchen hat. Wer genauer hinschaut, erkennt auf der faksimilierten Baedeker-Landkarte Italiens die Jahreszahl 1914 und die Aufschrift "Ministerio del Colonie". Nur zur Feier des absichtslosen Kunstschönen hängt William Kentridges Textilarbeit von 2014 nicht in der südlichen Ägäis. 

Kunst auf griechischen Inseln in flirrender Hitze. Diese, so zyklisch wie Pandemien wiederkehrenden Events auf Hydra, Samos oder Patmos sind die Chiffre für die eskapistischen Bedürfnisse der global art crowd in der Sommerpause. Gut getarnt unter raunenden Slogans, aufgepeppt mit Promis und Philosophen werden vor blendend weißen Mauern gern Ewigkeitswerte beschworen: Transzendenz, Kontemplation, Unendlichkeit. 

"All Things Become Islands Before My Senses", der Titel einer kleinen, gerade mal 17 Positionen umfassenden Gruppenausstellung der Istanbuler Kunst-Initiative Perasma auf Leros klingt auch nach derlei mediterranen Entspannungsübungen vor ewiger Bläue, macht aber doch eine Ausnahme. Zwar beschwören auch Burcu Fikretoğlu und Gizem Naz Kudunoğlu, Gründerinnen und Kuratorinnen des Projekts, in ihrer Projektprosa Zeit, Wasser und das "Fluide der Existenz", wo sich Mythologie, Fantasie und Realität überlagerten. In ihren lichten, impressionistischen Wandmalereien, mit der sie den temporären Artspace mit Szenen aus dem Mythenhaushalt der griechischen Jagd-Göttin Artemis überzogen hat, nimmt die deutsch-britische Künstlerin Sophie von Hellermann diese Lesart des Mediterranen auf. 


Auch Cevdet Erek, einem der spannendsten und erfindungsreichsten türkischen Gegenwartskünstler an der Schnittstelle von Musik und Bildender Kunst, geht es mit seiner Sound-Installation "SSS – Shore, Sea, Soundtrack" um eine sinnliche Dimension. Wer mit der Hand über an die Wand gehängte Streifen grauer Kunststoffteppiche in dem modernistischen Bau der alten, noch aus italienischer Besatzungszeit stammenden Grundschule in der Hafenstadt Lakki streicht, erzeugt einen Klang, der dem rauschenden Meer zum Verwechseln ähnelt: Art imitates nature. Aber die beiden Kunstliebhaberinnen Fikretoğlu und Kudunoğlu, die nach langen Routine-Jahren in der Istanbuler Kunstszene ihr eigenes Projekt realisieren wollten, haben nicht umsonst das kleine Leros als Standort ihrer im Vorjahr erstmals unter dem Titel "Time is a child" gelaunchten Ausstellung ausgewählt. 

Ein faszinierendes historisches Palimpsest

So klein die 75-Quadratkilometer-Insel ist, gleicht sie doch einem faszinierenden historischen Palimpsest. Auf einem Berggipfel des felsigen 8000-Seelen-Eilandes thront die Trutzburg der Johanniter aus dem 11. Jahrhundert. Das Osmanische Reich hinterließ kaum Spuren. 1912 kamen die Italiener. Der "Duce" baute die strategisch gelegene Insel zum maritimen Dreh- und Angelpunkt seines bis nach Afrika ausgreifenden Imperiums aus, verbot die griechische Sprache. Schließlich kamen die Nazis. In dem kleinen "War Museum" von Leros, eingezwängt in einem der unzähligen, unterirdischen Tunnel, mit denen Mussolini die Insel durchlöcherte, lassen sich noch die rostigen Granaten, Stahlhelme und mottenzerfressenen Uniformen der "Schlacht von Leros" in Augenschein nehmen. Unter der Chiffre "Taifun" entrissen die Nazis 1943 die Insel dem Duce – der letzte militärische Sieg Hitlers vor der Kapitulation anderthalb Jahre später.

Das Bewusstsein für den historischen Kontext zeichnet die kleine Schau aus. Ihre sechs Spielorte sind allesamt in geschichtlich aufgeladenen Gemäuern untergebracht. Eines davon sind die "Old Barracks" von Xerokampos in den Bergen über der Stadt Diapori. An den bröckelnden Wänden des verwahrlosten Bunkers sind immer noch die Karikaturen des deutschen Soldaten Otto Meister zu sehen, die die Landser-Bedürfnisse damals ventilierten: Eine laszive Dame im kurzen Rock mit Hund. 

Meister malte aber auch eine gelbstichige Kopie von Pieter Brueghels "Bauernhochzeit". Eines der düstersten Relikte der imperialen Fieberträume ist das Kasernengebäude der alten italienischen Marinebasis. Nach dem Krieg ließ die griechische Regierung darin unheilbar psychisch Erkrankte dahinvegetieren. Später sperrten die Obristen in dem Komplex politische Gefangene ein. Heute hat die Europäische Union direkt daneben ein Containerdorf für Flüchtlinge errichtet. 


Die bedrückende Szenerie inspirierte die britische Konzeptkünstlerin Goshka Macuga zu ihrem ersten Horrorfilm. Für die Künstler Kostis Velonis und Paweł Althamer ist die Insel ein Symbol für diese ständigen, erzwungenen Fluchtbewegungen der Outsider. Der griechische Bildhauer hat Bruchstücke eines Schiffswracks zu einer Installation zusammengestellt, die das Fragile und Ephemere des imaginären Konstrukts Heimat symbolisieren. 

Althamers kleines, aus glasierter Keramik geformte "Fools boat", welches er auf ein Fensterbrett in der Ausstellungs-Ruine in Lakki gestellt hat, wirkt wie eine Miniaturausgabe des Floßes der Medusa. Ein paar verzweifelte Gestalten, die die Hände ringen, treiben da einem ungewissen Schicksal entgegen. In den nächsten Wochen wird der Warschauer Künstler den "Nautical Club" der Insel in eine Kunstakademie für Flüchtlingskinder verwandeln. 

Kein demonstratives Politmotto

Perasma, der Name des Kunstprojektes, kommt nicht von ungefähr. Das griechische Wort bedeutet Passage, Übergang. 15 Fährminuten vor der türkischen Urlaubsmetropole Bodrum gelegen, ruft es mit Hilfe der Kunst die friedliche Nachbarschaft zwischen den beiden Ländern auf – ohne ein demonstratives Politmotto daraus zu machen. Machthaber Erdoğan im autoritären Nachbarstaat gefällt sich im Säbelrasseln. Immer wieder stellt er den 1923 im Lausanner Vertrag festgelegten Grenzverlauf zwischen Griechenland und der Türkei in der Ägäis in Frage, droht gar mit militärischer Intervention.

Bei "Perasma" ist alles kulturelle Kooperation. Ob nun Cevdet Erek den poetischen Text zu seiner Sound Art als türkisch-griechisches Kunstbuch herausbringt und zur Vernissage gemeinsam mit dem örtlichen Philanthropen Nicos Phocas, einem früheren Kunsthändler, als szenische Lesung zweisprachig vorträgt. Oder ob bei der Eröffnung die Sterne-Köche Maksut Askar vom Istanbuler In-Restaurant "Neolokal" und Manolis Papoutsakis vom Athener Pendant "Pharao" ein Slow-food-Menü kreieren und die DJs Barış K von Istanbuls Boiler Room und der mit seinem "Worldwide Groove" bekannt gewordene Athener Kollege George Rallis gemeinsam auflegen. 


"Leros hat unglaublich viel Potential", schwärmen die enthusiastischen Macherinnen Fikretoğlu und Kudunoğlu. Für das nächste Jahr planen sie schon die dritte Ausgabe. Der erstaunliche Fundus der Weltgeschichte ist noch lange nicht erschöpft. 

Dazu kommt ein Naturerlebnis, das sich von dem Touristenhorror in Kos oder Mykonos unterscheidet. Die griechische Künstlerin Evgeni Vereli hat die Insel, von der Nicos Phocas sagt, dass man zwar von ihr abreisen, sie aber nicht verlassen kann, zu einer kleinen Utopie herausgefordert. In einer bunten Kreidezeichnung sieht man die Köpfe einer Ziege, eines Pferdes und den eines Menschen inmitten eines alten Olivenbaums – Symbol einer interspeziellen Koexistenz.