Manches Ei kommt unverhofft, aber dafür umso überraschender. Ich hatte Konstantin Esterl, Organist der Pfarrgemeinde St. Maximilian in München, und Markus Krajewski, Kulturwissenschaftler an der Universität Basel, zu einem improvisierten Abendessen eingeladen – und dabei gar kein Ei im Sinn. Erst im Verlauf des Abends drängte sich die Idee auf, über unsere Gespräche einen Text zu schreiben, weil darin tatsächlich einiges eigentümlich Ungelegtes zu Tage kam.
Es begann mit einem Spaziergang. Konstantin Esterl erzählte von seiner Dissertation, die sich mit der Entstehung der Musiksoziologie in den 1920er-Jahren beschäftigt. Ein Vorhaben, das er vielleicht nie fertig stellen wird. Nicht aus Desinteresse, nicht aus Unfähigkeit, sondern, weil er wie mir scheint, das Stadium des Unabgeschlossenen angenehm findet. Und auch Markus Krajewski ist an einem Projekt beteiligt, das in gewisser Weise nicht auf Vollendung angelegt ist: Er ist einer der rund 30 Herausgeber:innen der Kittler-Werkausgabe. Bei Merve ist dieses Jahr unter dem mysteriösen Titel "Werkausgabe I.B.4" ein erster Band erschienen, der "zu Lebzeiten Veröffentlichtes, Aufsätze, Artikel, Rezensionen, Miszellen" aus den Jahren 1981 bis 1983 versammelt. Da das Vorhaben auf rund 35 Bände angelegt ist, überschreitet es die statistische Lebenserwartung der meisten Herausgeber:innen. Krajewski ediert die Interviews.
So kamen wir nicht umhin, über ungelegte Eier zu reden, nicht über die eigenen, sondern auch über die anderer. So berichtet Konstantin Esterl von Theodor W. Adornos unvollendeter Oper, denn der berühmte Soziologe verstand sich Anfang der 1930er-Jahre auch als Komponist. Titel des geplanten Singspiels war "Der Schatz des Indianer-Joe", 1932-33 schrieb er nach Motiven von Mark Twain das Libretto und arbeitete an der Vertonung. Er gab den Text seinem Freund Walter Benjamin zu lesen, der, selbst auf der Flucht vor den Nazis, das im 19. Jahrhundert angesiedelte, auf Freundschaft und den Umgang mit einem Mord fokussierende Werk zu "idyllisch" fand.
Im Nachgang zu unserem Gespräch schickt mir Konstantin Esterl noch einen Ausschnitt aus der Adorno-Biografie von Stefan Müller-Doohm, aus dem ich hier zitieren möchte: "Nachdem Adorno […] 1933 gezwungen war, Deutschland zu verlassen, legte er den ganzen Opernplan ad acta. […] Mag sein, daß die zeitgeschichtlich bedingte Erfahrung der Angst und mit ihr das Trauma der realen Vertreibung objektiv Dimensionen angenommen hatten, denen die musikalischen Ausdrucksmittel der Oper längst nicht mehr gewachsen waren."
György Ligeti on fire
Aber, wie sich beim Essen herausstellte, hatten meine beiden Gäste auch ihre ganz eigenen ungelegten Eier. Wenn man danach fragt, gräbt ja jeder eines aus. Markus Krajewski arbeitet an einem Kochbuch. Er steuert nicht die Rezepte bei, sondern kulturhistorische Reflexionen zu den Zutaten. Und auch Konstantin Esterl hat ungelegte Eier, die er irgendwann fertig gebrütet haben will. So will er György Ligetis Orgelstück "Volumina" einspielen, ein Stück, mit dem Ligeti die Möglichkeiten – und Grenzen – zeitgenössischer Orgelmusik erkunden wollte.
Auch hier scheint bei Konstantin Esterl ein gewisses Interesse an Unmöglichkeiten am Werke zu sein, denn die 1962 in Bremen geplante Uraufführung wurde abgesagt, nachdem bei einer Probe in Göteborg ein Schwelbrand ausgebrochen war. Der Organist, so die Anweisung des Komponisten, legt sich mit seinem ganzen Oberkörper auf die Manuale (so heißt bei der Orgel die Tastatur), was zu einem Kurzschluss in der Steuerungselektronik führte. Ob Esterl das Feuer auch reenacten will, haben wir leider nicht besprochen.
"Moby Dick" als ungelegtes Ei
Auch Markus Krajewski scheint ein Hang zu ausufernden, nicht enden wollenden Vorhaben zu haben. Seit 16 Jahren ist er an einem wissenschaftlichen Melville-Projekt beteiligt. In einer Freundesgruppe findet jedes Jahr ein Treffen statt, jeder hat dann ein Kapitel von "Moby Dick" bearbeitet, 20.000 Zeichen Text, 30 Minuten Vortrag. Manchmal, berichtet Markus Krajewski, ist das gar nicht so einfach. Er exemplifiziert das an Kapitel 122, dem kürzesten des Romans. Es ist so kurz, dass man es hier problemlos zitieren kann: "Um, um, um. Stop that thunder! Plenty too much thunder up here. What’s the use of thunder? Um, um, um. We don’t want thunder; we want rum; give us a glass of rum. Um, um, um!"
Man kann sich vorstellen, dass 30 Minuten Vortrag über rund 30 Wörter eine echte Herausforderung sind. Die Überlegungen, die Krajewskis Kollege Matthias Bickenbach dazu angestellt hat, drehen sich um die indigenen und kolonialen Bezüge dieses Kapitels – lesen kann man sie hier.
Mit den 135 Kapiteln ist die Gruppe inzwischen durch, nun haben sie sich die 81 Zitate vorgenommen. Es wäre ja schade, so ein Projekt abzuschließen. Dass die Jagd nach Moby Dick für Kapitän Ahab unvollendet bleibt, besprechen wir aber nicht. Was für mich die Quintessenz war? Dass ich mit meinen Überlegungen zu "Folgenlosigkeit" noch weit hinter den Möglichkeiten zurückbleibe und die (vermeintliche) Verschwendung von Zeit, Energie und Intelligenz auch eine Form von Freiheit ist. Die Freiheit der Ziellosigkeit – weshalb ich in Zukunft keine Texte über ungelegte Eier mehr schreiben werde.
P.S: Markus Krajewski hat beteuert, dass die intensive Auseinandersetzung mit Moby Dick keine Verschwendung sei. Moby Dick, so meint er, "gibt das wirklich her". Ich werde den Schinken also endlich mal lesen. Alle Kapitel.
P.P.S: So ganz wird es bei mir mit der Ziel- und Folgenlosigkeit nicht klappen. Ab November gibt es hier bei Monopol einen Podcast mit mir, den "Fantasiemuskel". In diesem Sinne: Wie hören uns.