Eine gute Möglichkeit, auf einem Kreuzfahrtschiff die Kunstreisegruppe von den anderen Gästen zu unterscheiden, ist eine Nacktperformance. Als sich die Künstlerin Marthe Ramm Fortun im Check-In-Bereich des norwegischen Hurtigenrutenschiffs MS Trollfjord plötzlich den schwarzen Regenponcho vom Leib reißt, schauen ihre Kunstkollegen teilnahmslos bis mild amüsiert. Ein paar knipsen symbolträchtige Fotos, als sich die Performerin nackt unter den Porträts des norwegischen Königspaares räkelt und über den weiblichen Körper in der Kunst skandiert. Die anderen Passagiere sind weniger gelassen. Immer wieder huschen kichernde ältere Damen in Funktionskleidung vorbei, ein paar ergraute Herren schwanken zwischen ungläubigem Starren und demonstrativem Desinteresse. Eine freundliche Mitarbeiterin in Uniform sagt der Künstlerin, dass sie sich für den Rest der Performance etwas überziehen muss – ein Hinweis, den Marte Fortun auf dem nächsten Deck schon wieder über Bord wirft.
Dass im sonst eher gemütlichen Alltag der MS Trollfjord auf ihrem Weg entlang der norwegischen Küste solche Dinge passieren, liegt am Kunstfestival Coast Contemporary, das in der vergangenen Woche zum zweiten Mal stattgefunden hat. Die Reise, die von verschiedenen norwegischen Kulturinstitutionen gefördert wird, kann man sich vorstellen wie eine Networking-Klassenfahrt auf einem Kreuzfahrtschiff. Wer nicht gerade seekrank in seiner Kabine liegt und pausenlos von dreisprachigen Ansagen über die Hurtigruten-Expeditionen zu Lachsfarmen und Marmorbergwerken malträtiert wird, kann Künstler, Kuratoren und Autoren treffen, Vorträge und Filme anschauen und die künstlerischen Interventionen an Bord aufspüren.
Die Kunstroute beginnt in Svolvaer auf der Inselgruppe Lofoten nördlich des Polarkreises, und als die Kinnladen angesichts der spektakulären schneegepuderten Berglandschaft wieder hochgeklappt sind, sind sich schnell alle einig, dass es hier Residencies geben sollte. Auftritt Aslaug Vaa, die aus dem winzigen Fischerdörfchen Kvalnes tatsächlich einen Kulturort gemacht hat. Eine ehemalige Fabrik für Dorschlebertran ist nun von außen ein schickes Holzhaus und von innen ein skandinavischer Designtraum mit Glasfußboden, durch den man in der Küche einem kleinen Bächlein beim Fließen zusehen kann. In die Villa Lofoten werden mehrmals pro Jahr Künstler eingeladen, die im Nirgendwo des Nordens zumindest nicht über Ablenkung klagen können.
In dem Dorf, das ganze neun ständige Einwohner aufweisen kann, sind Künstler deutlich in der Überzahl. Kjetil Berge hat aus einer Scheune den Veranstaltungsort Sunset Barn gemacht, die Maaretta Jaukkeri Foundation lädt Gäste aus verschiedenen Disziplinen zum Forschen ein, und auch die Künstlerin A K Dolven hat sich in Kvalnes ein Studio mit endlosem Meerblick gebaut.
An der kurvigen Küstenstraße zurück nach Svolvaer erhebt sich am Wegesrand plötzlich eine Skulptur von Dan Graham, in der sich malerisch der Fjord spiegeln würde – wenn es nicht gerade sturmhageln würde. Insgesamt stehen unter dem Titel "Artscape Nordland" um die 40 Werke von bekannten Künstlern relativ unbehelligt in der nordnorwegischen Natur herum.
Und ganz untypisch in Zeiten des overtourism ist Norwegen ein Land, das sich tatsächlich mehr Kulturtourismus wünscht. "Hier ist noch Platz", sagt Annika Winström, Direktorin der Maaretta Jaukkeri Foundation, und zeigt schmunzelnd über die weite Fjordlandschaft. Für 2019 hat das Land daher eine Kulturoffensive geplant und wird als Gastland der Frankfurter Buchmesse ins Scheinwerferlicht der Literaturwelt treten. Außerhalb der Messehallen wird es auch norwegische Kunst zu entdecken geben: zum Beispiel die fantastischen Webarbeiten von Hannah Ryggen in der Frankfurter Schirn. Ihre Werke sind nicht nur farbenfrohe Zeugnisse ihres Widerstandes gegen die Nazi-Besatzung, sie erlangten auch traurige Berühmtheit, als einer ihrer Wandteppiche im Osloer Regierungsviertel beim Bombenattentat von 22. Juli 2011 beschädigt wurde. Das inzwischen reparierte Werk, das auch auf der Documenta 13 zu sehen war, hängt vor seiner Deutschlandreise 2019 gerade noch im Nordenfjelske Art Museum in Trondheim, wo die Kunstkreuzfahrer zu einem kurzen Landgang anlegen.
An Bord der MS Trollfjord, wo sich die norwegische Küste vor den Panoramafenstern ständig selbst an Rau- und Schönheit übertrifft, wird auf Initiative der Gründungsdirektorin Tanja Sæter und dem Kurator Charles Aubin viel über Landschaft nachgedacht. Die Reedereien feiern Norwegen als zerklüftetes Paradies, doch auch hier ist die Idylle gefährdet – oder hat vielleicht nie existiert. In ihren Vorträgen erinnern Künstler an den Klimawandel, der die Arktis schon jetzt dramatisch verändert, die Debatten um mögliche Ölplattformen im Norden und die Unterdrückung der Sami in ihren angestammten Gebieten.
Ein Hurtigrutenschiff ist in all seiner erzwungenen Fröhlichkeit ein merkwürdiger Ort, um über diese Themen nachzudenken. Aber in all seinen Widersprüchen zwischen Bewegung und Festsitzen vielleicht genau der richtige. Für die Passagiere ist die Natur gleichzeitig ganz nah und unerreichbar weit weg. Auf der MS Trollfjord ist überall von Sauberkeit die Rede und auf jedem Deck stehen Spender zur Hände-Desinfektion. Gleichzeitig ist das Schiff eine CO2-Schleuder und auf dem Buffet liegt der Lachs aus den Fischfarmen, die das Künstlerduo Cooking Sections gerade noch als Umweltkiller gegeißelt hat.
Nach knapp 2000 Kilometern auf See läuft das Schiff schließlich mit ermatteter Mannschaft in Bergen ein, wo die Literatur-Export-Organisation „Norla“ den Autor Tomas Espedal zu einer Stadtführung gebeten hat. Espedal ist in Norwegen so bekannt, dass man sich ein bisschen schämt, ihn auf den wohl berühmtesten Bergener der Gegenwart, Karl-Ove Knausgård, anzusprechen, aber es dauert nicht lange, bis er ihn von selbst anführt. Espedal war Knausgårds Dozent an der Schreibschule und hält ihn bis heute für seinen besten Schüler. An einigen Ecken streut er Anekdoten ein, die auch in Knausgårds autobiografischen "Min kamp"-Büchern eine Rolle spielen. Wegen des Café Opera, wo in den Büchern einige poetische Besäufnisse stattfinden, kommen inzwischen sogar Besucher aus dem Ausland.
Die Frage, warum das relativ beschauliche Küstenstädtchen Bergen so viel gute Kunst und Literatur hervorbringt, beantwortet Espedal mit dem Wetter. "Hier regnet es so viel, dass den Leuten gar nichts anderes übrig bleibt, als drin zu bleiben und zu arbeiten." Auch die Schriftstellerinnen Gunnhild Øyehaug und Olaug Nilssen sagen am nächsten Tag etwas Ähnliches. Durch das Wetter herrsche in der Stadt eine gewisse Grundbetrübtheit – und die sei für die Kunst gar nicht so schlecht. Als sich die Kreuzfahrtgesellschaft an einem untypisch sonnigen Tag in Bergen zerstreut, bleibt eher ein erhebendes Gefühl zurück. Das nächste Hurtigruten-Schiff verlässt schon wieder den Hafen. Und der Boden schwankt wie durch Phantomwellen immer noch.