Ateliers als Social-Distance-Orte

Im Lockdown mit der Kunst

Bei wieder steigenden Corona-Fallzahlen erscheint das Atelier ein geeigneter Ort, um Social Distancing mit Sinn zu füllen. Doch ein Blick in die Geschichte zeigt: Im Studio sind Künstler und Künstlerinnen nie ganz allein

"Wirklich reich ist man, glaube ich, wenn man einen Raum hat. Einen großen leeren Raum", sagte Andy Warhol einmal und meinte damit vor allem wohl den Reichtum an Möglichkeiten. Nach den Erfahrungen des Lockdowns im Frühjahr und mit neuerlichen Einschränkungen des öffentlichen Lebens in diesem Herbst klingt dieser Satz noch einmal wahrer: Die Quarantäne-Qualität steigt tatsächlich mit den zur Verfügung stehenden Quadratmetern.

In diesen Monaten, in denen Einsamkeit ein Akt der sozialen Verantwortung ist, gerät auch das Atelier wieder in den Blick, denn es ist idealerweise geräumig, ermöglicht eine gesellschaftlich akzeptierte Form des Alleinseins und füllt Social Distancing mit Sinn; schließlich soll am Ende der Prozesse, die an diesem Ort stattfinden, Kunst stehen.

Die Gruppenausstellung "Studio Berlin" im Berliner Technoclub Berghain ist ein erster Ausdruck davon, wie sehr sich durch die Coronamaßnahmen der Blick wieder dem Produktionsort der Kunst zuwendet: Viele Arbeiten bilden die unmittelbare Umgebung der Künstlerinnen und Künstler ab, sprechen davon, wie sehr der Lockdown Konzentration und Selbstbefragung fördern. Die "Quarantine Flowers"-Polaroids von Ketuta Alexi-Meskhishvili etwa entstanden während der ersten Wochen der Pandemie, auch Cemile Sahins großformatige Drucke, mit denen sie den Stillstand auf einem Parkplatz vor ihrem Atelierfenster dokumentiert.

Doch das Atelier war lange Zeit nur dem Klischee nach ein Ort der Kontemplation. Die Ateliers von Andy Warhol (1928-1987) waren tatsächlich groß, aber nicht wirklich leer: Besucherinnen und Besucher feierten in seinen Arbeitsräumen, die er "Factory" nannte, ließen sich filmen und lümmelten auf dem Sofa. Hundert Jahre zuvor hatte sich allmählich eine Erkenntnis durchgesetzt: An den Orten, an denen Kunst entsteht, erfährt man mehr über sie als in Büchern, Salons, Museen oder auf Verkaufsausstellungen. 

Das Atelier ist deshalb schon immer ein Ort, an dem Künstlerinnen und Künstler ihr Alleinsein erkämpfen mussten. Ein großer, leerer Raum ist ein Privileg und eine Auszeichnung, besonders in Zeiten des grassierenden Coronavirus, der steigenden Mieten und Verdrängung aus den Innenstädten.

Atelierdarstellungen als Zugeständnis an die Öffentlichkeit 

Vielleicht ist es auch als ein Zugeständnis an die interessierte Öffentlichkeit zu verstehen, wenn die Produktion der Kunst selbst ihr Gegenstand wird. Schon früher malten sich Künstlerinnen und Künstler bei der Arbeit, Bilder, die wie Diego Velázquez' "Las Meninas" (1656) oder Artemisia Gentileschis "Selbstporträt als die Allegorie der Malerei" (1638/39) zu ihren berühmtesten Werken zählten. Doch ab Mitte des 19. Jahrhunderts, als auch in Deutschland das Wort "Atelier" (von frz. "Werkstatt") in Mode kam, malten sie vermehrt ihre Werkstätten. Ein paar fertige Arbeiten stehen angelehnt an der Wand, vielleicht auf einer Staffelei etwas noch Unvollendetes in Rückenansicht. Arbeitsutensilien sind dabei kaum abgebildet, dafür umso mehr antike Gipsplastiken und Büsten verehrter Hausgötter. Der Maler – tatsächlich fast immer männlich – sitzt mal im Hausrock vor der Arbeit, mal als Bohemien leger gekleidet. Hier führt ein Meister seine Gäste durchs Atelier, dort ist er allein und zermürbt.

Auch die "Modellpause" war ein verbreitetes Sujet: Die Porträtierte verlässt ihre Pose, bewegt sich ganz "natürlich" durch den Raum und schaut schon mal auf die Leinwand. Auch sie will wissen: Wie werde ich zu Kunst an diesem Ort?

Egal, wie groß oder wie klein, gleich, welche Atmosphäre hier herrschte und wer darin zu finden war – das Atelier galt fortan als ein Spiegel der Künstlerpersönlichkeit und glich darin dem Kunstwerk selbst. Hier vollzog sich die geheimnisvolle Wandlung von Alltag in Kunst, hier war der Gegenort zur Fabrik genau wie zum bürgerlichen Wohnzimmer. Wurde der romantische Künstler mit seinem Einsamkeitsideal noch in Ruhe gelassen, ersuchte das Bürgertum nun um Einlass in die Produktionsstätten und war fasziniert von dem, was dort geschah.

Ateliers als die besseren Salons

Illustrierte wie "Die Gartenlaube" berichteten aus Ateliers, Künstler gaben Einrichtungstipps, die nicht nur jungen Malern galten, sondern auch dem bürgerlichen Haus, Bauzeitungen empfahlen ideale Architekturen und Moralapostel wetterten gegen etwaige Unsittlichkeiten. Und: Satireschriften machten sich lustig über diesen vermeintlichen Weiheraum. 

Einige Künstler inszenierten den Ort für dieses wachsende Publikum. Üppig eingerichtet war es bei Malerfürst Hans Makart (1840-1884): Sein Atelier war mehr Salon als Werkstatt, ein "Altar der Kunst"! Eingerichtet mit Teppichen, Möbeln, Kuriositäten und Bildern, die sich gegenseitig überboten und widerriefen. Besichtigung zwischen vier und fünf Uhr möglich. Nach seinem Tod wurde er in seinem Arbeitspalast aufgebahrt. 

Auch bei Édouard Manet (1832-1883) war es mitunter ganz schön voll. In mehreren Darstellungen von Henri Fantin-Latour vom Manet-Atelier drängen sich Schaulustige hinter dem Rücken des französischen Malers. Wie konnte er so nur malen, der Instant-Bewertung durchs Publikum ausgesetzt?

Doch die Impressionisten und Plen-air-Maler begannen damit, das Atelier hinter sich zu lassen. Für sie spielte vor allem das Licht eine Rolle; sie verbanden die Vorteile des Innen mit dem Interesse am Außen. Claude Monet (1840-1926) verbrachte den Beginn seiner Laufbahn auf einem Boot. Am Ende seines Lebens arbeitete er in einer Halle, 276 Quadratmeter, um seine monumentalen Seerosengemälde in panoramaartigen Rauminstallationen zu vereinen. Zur Betrachtung dieser Grandes Décorations stellte er Rücken an Rücken Sofas auf, ähnlich einladend wie bei Warhol in der alten Hutfabrik. 

Auguste Renoir (1841-1919) richtet sich ein Gartenatelier mit Fensterfronten ein, so dass er mitten im Olivenhain sitzen konnte und doch geschützt war. Der rheumakranke Renoir in seinem Gartenhäuschen bietet denn auch das prägnanteste Sinnbild für das Atelier als Wirklichkeitsfilter: Innen und Außen, Ruhe und Erregung greifen hier ineinander. Die vier Wände, Boden und Decke markieren Grenzen, die ein eigenes Ordnungssystem von anderen Ordnungssystemen trennen und doch durchlässig bleiben – Grenzen, durch die Leben diffundiert.

Die Avantgarden lassen die Wände wackeln

Die Avantgarden des angehenden 20. Jahrhunderts rüttelten schließlich in ihrem Formbegehren auch an den eigenen Atelierwänden: Es wurden weiter Bilder von der Malwerkstatt gemalt, doch sahen die Räume jetzt – etwa bei Picasso oder Matisse –  anders aus, schematischer, zerlegter, in Flächen aufgeteilt. Bei Lotte Lasersteins "Selbstporträt mit Katze" (1928) wirkt das Atelier ganz offen und licht. Die Auseinandersetzung mit neuen Wahrnehmungen und Ausdrucksformen wurde nun ganz direkt am Arbeitsort gesucht. Alberto Giacometti (1901-1966) benutzte die Wände seines Studios für Skizzen, Francis Bacon (1909-1992) mischte Farben auf den Türen seines Ateliers.

Hier und da brachen Künstler die Architektur selbst auf, wie im Merzbau von Kurt Schwitters (1887-1948) in Hannover oder wie in Piet Mondrians (1872-1944) durch farbige Flächen rhythmisch aufgelockerter Räume in Paris und New York. 

Zum Kunstwerk wurde die Kunstwerksatt auch in der Fotografie, Brassai (1899-1984) oder Henri Cartier-Bresson (1908-2004) entdeckten das Atelier als Motiv. Man Ray (1890-1976) fotografierte den Staub in Duchamps Atelier. Bei Alberto Giacometti schien der Staub, "das Material Giacomettis", wie Sartre schrieb, alles zu überziehen. Inbegriff für das Schöpfertum schlechthin: Staub Leben einzuhauchen. 

Und heute? Die Ateliers der zeitgenössischen Künstler wirken längst nicht mehr wie Geniuskammern. Nachdem Fluxus-, Performance- und Konzeptkünstler die Kunst und damit auch das Atelier weitgehend entmaterialisert haben, ist Nüchternheit eingezogen in die Orte der Kunstproduktion. Schon das Atelier von Joseph Beuys wirkte zwar unaufgeräumt, doch zweckmäßig.

Heute gleichen die Arbeitsplätze der globalisierten Künstlerelite häufig Büroräumen, Archiven, Ingenieurslaboren oder einfach Wohnzimmern. Versuchsweise wird das Studio gleich im Ausstellungskontext eingerichtet, wie jüngst bei Alexander Iskin, der sich zum Arbeiten in seiner Berliner Galerie einschloss, oder bei Otobong Nkanga, die im Gropius Bau einen Workshop-Raum einrichtete, in dem (so gut es Corona erlaubt) gearbeitet werden soll.

Das Künstleratelier besitzt also längst einen Ausgang zur Normalwelt. Solidarität, Kollaboration und Weltgewandtheit schlägt das heroische Künstler-Ego. Und doch: Wenn die Pandemie das Sozialleben ausknipst, bringt sie damit wieder in Erinnerung, was dieser Raum einst war und für viele Künstlerinnen und Künstler immer noch ist, tausendfach, jeden Tag: Ort des Triumphes, der Verzweiflung, des Kampfes mit dem Material, der Verwerfungen – und der Abgeschiedenheit.