"Waren Sie schon einmal auf einer Demonstration? Und wenn ja: Welche war Ihre erste und welche Ihre letzte? Wofür würden Sie nächsten Sonntag auf die Straße gehen, und was stünde auf Ihrem Banner?" Es sind direkte Fragen, mit denen die Leipziger Galerie ASPN ihr virtuelles Publikum derzeit auf der Homepage begrüßt. Schon seit einigen Jahren beobachtet Galeristin Arne Linde das Phänomen der Demonstrationen. Auf Pegida und Legida folgten mit "Fridays for Future" und "Black Lives Matter" Initiativen, die nach langer Zeit "mal wieder eine große Mobilisierung für demokratische, humanistische und linke Themen bedeutet haben", so Linde.
Die Demo-Frequenz in Deutschland hat ohne Frage zugenommen, nicht zuletzt im vergangenen Jahr, in dem eine angemeldete Demo die letzte mögliche Versammlungsoption darstellte. Sogenannte Querdenker liefen noch am 7. November 2020 mit "Wir sind das Volk!" um den Leipziger Innenstadtring und "verunglimpften diesen Ur-Ruf nach Freiheit und Demokratie", so Leipzigs Oberbürgermeister Burkhard Jung, ausgerechnet am Ort der Montagsdemonstrationen von 1989. Unter dem Titel "Demo Mode Society" vereint Arne Linde in ihren Räumen auf dem Leipziger Spinnereigelände bis Ende März fünf Positionen, die sich mit Demonstrationen, gesellschaftlichen Konstellationen und der Straße als Display auseinandersetzen.
Sebastian Jung war mittendrin bei einem "Demonstrationsversuch gegen die Coronamaßnahmen (21.11.2020)". 103 Zeichnungen sind währenddessen entstanden, zum Teil in Sekunden. Grafik Recording im Turbomodus, zuletzt auch ausgestellt im NS-Dokumentationszentrum in München. Konfrontiert mit den als Block präsentierten A5-Blättern beginnt das Decodieren von Gesten und Symbolen. Einzelne Schriftzüge sind zu erkennen, eine Fernsehjournalistin lächelt, ein Plakatträger ballt die Faust, hinter einer Absperrung fuchteln Personen wild mit den Armen. Ist auf Jungs Zeichnungen der Übergang von Corona-Schutzmasken und bewusster Gesichtsverkleidung fließend, zeigt Andrzej Steinbachs "Figur II, from the Series Untitled (Figur I, II)" den Prozess einer Vermummung: Eine junge Frau wickelt ein schwarzes Tuch um ihren Kopf, bis nur noch ihre Augen sichtbar sind. Das individuelle Portrait wird zum typologischen Bild. Die Serie ist schon im Jahr 2015 entstanden, doch nicht zuletzt angesichts des vor Kurzem in der Schweiz abgestimmten Verhüllungsverbotes im öffentlichen Raum von tagesaktueller Dimension.
Rotes Garn als Symbol für Blut und Leben
Auf die Straße zu gehen war schon immer ein Mittel der politischen Willensäußerung. In Demokratien ist diese Freiheit ein hohes Gut. In anderen Regierungssystemen werden Demonstrationen nicht zugelassen oder gewaltsam verhindert. Stellvertretend hängt gegenüber den in der Demokratie entstanden Zeichnungen von Sebastian Jung ein Originaltransparent aus Weißrussland, das eine auf dem Rücken liegende Kakerlake zeigt – Chiffre für Präsident Alexander Lukaschenko. Auch auf Siebdrucken von Rufina Bazlova findet sich die Kakerlake wieder. Erstmals setzt sich die in Belarus geborene Illustratorin mit ihren Wurzeln auseinander und reagiert auf die laufende demokratische Revolution.
Die digital generierten Motive erinnern an die traditionelle Wyschywanka-Stickerei – Muster, die seit Jahrhunderten auf Kleidung gestickt werden und Themen wie Liebe, Sonne und oft auch heidnische Symbole darstellen. Gestickt rund um Hals, Saum oder Ärmel, sollen sie den Körper vor bösen Einflüssen schützen. Das rote Garn symbolisiert Blut und Leben. Traditionell stickten Frauen – sie konnten oft nicht lesen und schreiben, sodass die Wyschywanka auch eine Möglichkeit für sie war, Informationen weiterzugeben. Aktuell postet Rufina Bazlova die Motive in den sozialen Netzwerken. Galeristin Arne Linde hat den Auflagen-Druck von vier Motiven vorfinanziert, sodass die Erlöse aus dem Verkauf direkt der Künstlerin zugutekommen und sie ihre künstlerische und aktivistische Arbeit fortsetzen kann.
Die Pandemie hat Arne Linde in den vergangenen Monaten vor Herausforderungen gestellt, vor allem aber ihr Selbstverständnis als Galeristin geschärft: "Ich mache das, weil ich es für einen ganz wichtigen Teil unseres gesellschaftlichen Zusammenhalts halte, dass in der Welt der Kunst Fragen anders verhandelt werden können, als in der Wirtschaft oder in der Politik." Die Entscheidung, die Ausstellung irgendwo zwischen Lockdown und Lockup zu positionieren, verleiht ihr zusätzliche Aussagekraft. Galerien sind eben mehr als Einzelhandel und mehr als ein gut kuratierter Concept Store. "Es ist Teil des galeristischen Arbeitens, an zeitgenössischen, diskursiven Themen dran zu sein und mitzugestalten", so Linde. Und so ist diese Ausstellung, obwohl nur mit Künstler:innen realisiert, die sie nicht fest vertritt, ein Beitrag zur Profilschärfung ihres Programms.
Real aufbauen, um virtuell zu kommunizieren
Zudem sprachen pragmatische Gründe dafür, die Ausstellung genau jetzt, trotz unklarer Öffnungsperspektive, aufzubauen: "Während es für eine Malerei-Ausstellung notwendig ist, eine persönliche Begegnung mit dem Bild zu haben, geht es hier auch viel um Hintergründe und Referenzen, die ich gut digital kommunizieren kann", erklärt Arne Linde. Das Vorgehen, Ausstellungen real aufzubauen, um sie dann virtuell abzubilden, hält sie auch für die kommenden Monate für praktikabler, als rein virtuelle Inszenierungen von Räumen, in denen Fotos von Kunstwerken hängen. "Diese Form der Präsentation kann eine den ganzen Körper einbeziehende Erfahrung nicht ersetzten, deshalb ist Frustration vorprogrammiert", so Linde. "Demo Mode Society" hat sie vom Leipziger Fotografen Stefan Fischer dokumentieren lassen. "Er schaut für mich durch die Kamera, sein Auge wird zum Stellvertreter einer menschlichen Wahrnehmung, und ich habe eine subjektive Perspektive, die mir Orientierung gibt."
Die körperliche Dimension von Demonstrationen wird dennoch nur beim realen Besuch im Ausstellungsraum spürbar: Weiße Luftballons mit der Aufschrift "Unfold The Banners Release The Balloons" liegen auf dem Galerieboden, reagieren auf jeden Luftzug, auf jede Bewegung im Raum, sind darin unkalkulierbar, fungieren gleichsam als Stellvertreter für Individuum und homogene Masse. Das ambivalente Zitat von Fabian Bechtle und Leon Kahane, die seit 2018 das Forum demokratische Kultur und zeitgenössische Kunst leiten, nimmt Bezug zu den offiziellen Feierlichkeiten im Europaparlament in Straßburg, wo am 12. Januar 2005 der Vertrag über eine Verfassung für Europa verabschiedet wurde – Anlass zum Feiern wie für Protest.
Ein ephemeres Denkmal des Jahres 2020
Auch die Installation "Flying Stone Memory" von Lea Petermann involviert die Betrachterinnen oder Betrachter: Auf Kopfhöhe hängen acht faustgroße Steine an Ketten, es könnten Pflastersteine sein, im Moment der Eskalation geflogen. Vorausgegangen ist ihnen ein performativer Akt: Lea Petermann hat Kugeln aus weichem Ton auf die Wände ihres ehemaligen Wohnhauses geworfen. Die Kugeln verformten sich und speicherten die Interaktion zwischen Künstlerin und Raum, die nun in Beton gegossen dauerhaft konserviert ist.
Es sind diese Mehrdeutigkeiten, die die einzelnen Arbeiten auch jenseits des Ausstellungsthemas für sich stehen lassen. Die kluge kuratorische Klammer macht die Ausstellung zu einem ephemeren Denkmal des Jahres 2020. Man wünscht ihr, dass sie real weiterzieht. Denn egal, ob Ausstellungsfotografien oder Online Viewing Rooms – die Alternativen können das physische Erlebnis mit Kunst nur bedingt ersetzen. Am 10. April eröffnet in der Galerie ASPN die nächste Ausstellung mit Malereien von Jochen Plogsties, die von einer kleinen Publikation begleitet werden wird. Ein gedrucktes Produkt ist dann doch das schönste Ersatzformat: Es riecht nach Druckerschwärze, ist gut gestaltet und erscheint unabhängig von den aktuellen Corona-Schutzmaßnahmen. Gegen die wurde am vergangenen Wochenende in Leipzig wieder demonstriert – mit einem überschaubaren Autokorso und Gegenprotesten auf dem Fahrrad.