Ein Messebesucher greift tief in seine Hosentaschen und stülpt sie nach außen. Er hat leider nichts dabei, das er den Bronzestatuen von Namsal Siedlecki opfern könnte. Auf den Sockeln liegen bereits eine Orange, ein Bonbon und eine Münze, vermutlich alles von der römischen Galerie Magazzino gespendet, um den Stein erstmal ins Rollen zu bringen. Jetzt wären die Gäste dran, aber Fehlanzeige. In den Tempeln Nepals, wo Siedlecki die Inspiration für seine Serie "Mvaḥ Chā" (2020) gefunden hatte (er interessiert sich für die abstrakten Gussformen, anstatt für deren figurative Güsse) fallen die Gaben der Gläubigen jedenfalls großzügiger aus als hier in Turin.
Abgesehen von diesem einen Stand, der sich einen Spaß erlaubte, war die diesjährige Artissima – Italiens wichtigste Messe für zeitgenössische Kunst – nicht auf Almosen angewiesen. Nachdem das Event 2020 wegen Corona abgesagt werden musste, ließ Direktorin Ilaria Bonacossa allen Galerien schnellstmöglich ihr Geld zurückerstatten, um sie dann im Frühling 2021 aufs Neue für die Bewerbung auf einen Messestand zu gewinnen. Diese Überzeugungsarbeit klingt bei Bonacossa ungefähr so: Die Artissima kann zwar nicht mit den Umsätzen anderer großer Messen mithalten (sechsstellige Verkaufspreise sind hier die absolute Ausnahme), dafür sei ein Stand in Turin jedoch eine Investition in das persönliche Netzwerk, in das gute Miteinander und somit letztlich auch wieder in die eigene Karriere. 154 ausstellende Galerien aus 37 Ländern haben sich in diesem Jahr auf den Deal eingelassen. Damit die Gänge im Oval Lingotto um einen Meter verbreitert werden konnten, waren es 50 weniger als vor der Pandemie.
Ihrer versprochenen Funktion als Talentscout geht die Artissima vor allem in zweien der sieben Sektionen nach. "Present Future" ist eine kuratierte Schau aus zehn jungen Künstlerinnen und Künstlern, in der trotzdem kräftig eingekauft werden durfte. "New Entries" heißen derweil die Stände für aufstrebende Galerien; eine davon war diesmal die Münchner Galerie Britta von Rettberg mit einer Solo-Schau von Patrick Ostrowsky, die schon für 2020 geplant gewesen war.
Die Spur der Steine
Manche Galerien behielten ihr Konzept aus dem Ausfall-Jahr (zum Beispiel Cortese aus Mailand, die ein aufwendiges Jubiläums-Programm zusammengestellt hatten und ihr 25-jähriges Bestehen nun nachfeierten), Patrick Ostrowsky aus München hingegen nutzte die Extra-Zeit zum Weitermachen und brachte fast ausschließlich Arbeiten mit, die es letztes Jahr noch gar nicht gegeben hätte. Seine treffend betitelte "Aufpasserin" (2021) kostet 6500 Euro und wachte streng über die Besucherströme in der Halle. Sie stammt aus Ostrowskys andauernder Beschäftigung mit "unkultiviertem" Material, also als wertlos geltenden und brachliegenden Baustoffen, die er in Skulpturen und Installationen schillernd aufwertet.
Gefällig wollen seine Schutt-Arbeiten nicht sein, sie sind nicht zum Durchhetzen oder für den Blick aus dem Augenwinkel gemacht. Mit dieser Haltung ist Ostrowsky bestens aufgehoben in Turin, wo die Arte-Povera-Bewegung eine lange Tradition hat und weiterhin präsent ist. Ein Gemälde von Pier Paolo Calzolari wurde gleich am Preview-Tag für 32.000 Euro verkauft, Richard Long bekam eine aufsehenerregende Schau am Stand der Turiner Galerie Tucci Russo, und die Spur des Künstlers aus möglichst geometrisch gelegten Steinen führt hier sowieso durch die ganze Stadt; zum Beispiel in die Räume der Fondazione Merz, wo parallel zur Messe eine Ausstellung mit Werken von Marisa Merz, Mario Merz und ihm eröffnete, allesamt aus visuell "armen" Materialien geschaffen. Zu einer Pflichtübung auf Kunstmessen ist es mittlerweile geworden, dass eine eigene Sektion solch wichtigen Bezugsgrößen aus den vergangenen Jahrzehnten huldigen muss (hier heißt sie "Back to the Future").
Im fünften und letzten Jahr von Ilaria Bonacossas Amtszeit als Direktorin ging es aber mehr darum, was eigentlich von ihr persönlich bleiben würde. Sie habe sich in ihrer Rolle weiterhin stets als eine Kuratorin verstanden, sagt Bonacossa (zuvor kuratierte sie neun Jahre lang für die Stiftung von Turins Vorzeige-Sammlerin, Patrizia Sandretto Re Rebaudengo).
Eine Messe im Gegentakt
Entsprechend wichtig waren ihr diesmal der kuratierte geographische Schwerpunkt aus sieben indischen Galerien, sowie das diesjährige Motto "Controtempo" (Gegentakt). Was gegenläufige Tempi angeht, setzte zum Beispiel die Produzentengalerie Hamburg einen schönen Akzent, indem sie Dasha Shishkin auf Jonas Burgert antworten ließ: beide mit ganz neuen Arbeiten vertreten und farblich voneinander abgetrennt, als liefe man aus einem Sepia-Film hinüber in einen dekadenten Cartoon, wo Shishkin mit ihren schrulligen Acryl-Charakteren die Show stahl.
Einen anderen klugen Dialog gab es bei der Galerie Isabelle van den Eynde aus Dubai zu sehen. In einer neuen Arbeit ihrer "Jungle"-Serie lässt Hoda Tawakol wieder ihre fulminanten Textil-Wülste aus dem Rahmen und aus dem Zweidimensionalen herauswachsen; außerdem platzen die gleichen Geschwüre aus den verunstalteten Körpern von Vintage-Barbie-Puppen, mit Nähten wie Äderchen, in tollen Farbskalen. Ihr gegenüber lässt Raed Yassin die Vergangenheit nicht wuchern, sondern schwinden. Durch die dicke Schicht Sprühfarbe ist von den Vintage-Fotografien, die er übertüncht, nichts mehr zu erkennen – könnte man von Weitem fälschlicherweise denken ("The Company of Silver Spectres", 2021).
Solche Arbeiten, für die man den Kopf mehrmals schief legen muss, werden nie so fotogen wie manch andere sein. Die physische Messe vor Ort bleibt ein wichtiger Termin für die Galeristen, wenngleich sich Turin da in Zukunft gegen einige weltläufigere Städte behaupten müssen wird. Ihr neues hybrides Format (die Ergänzung durch digitale Räume) will die Artissima als ein Überbleibsel der Pandemie beibehalten, wenn es nach der Direktorin Ilaria Bonacossa geht. Das Kalkül dahinter ist auch, dass die Sammlerinnen und Sammler in Turin sich ein bisschen mehr Zeit als anderswo für ihre Kaufentscheidungen lassen, also vielleicht ja doch online nochmal nachgucken wollen.