"Nehmt euch nicht zu ernst", scheint es aus der alten Fabrikhalle zu rufen, in der an diesem Wochenende wieder die Art-O-Rama stattfand. Schon die Gestaltung der Plakate, denen man in ganz Marseille über den Weg läuft, ist mit dem Krakelschriftzug in leuchtendem Pink ungewohnt verspielt. Ernst zu nehmen ist die kleine aber von Jahr zu Jahr wachsende Kunst- und Design-Messe im Herzen Marseilles jedoch allemal. Zu Beginn noch mehr ein Kunstfestival mit Kaufoption ist die Marseiller Sommer-Messe erwachsen geworden – ohne ihren jugendlichen Charme zu verlieren.
Über 60 Galerien und Projekte nahmen an der 16. Ausgabe teil, die sich über zwei Etagen erstreckte – unten die Kunst, oben Kunstinitiativen, die hier eine Plattform bekommen (darunter etwas die Online-Kuratorenresidenz Six Years), und daneben das, was grob unter "Design" fällt: dekorative Objekte, Lampen, Editionen.
Friche la Belle de Mai, das Kulturzenrum, in dem die Art-O-Rama beheimatet ist, entspricht nicht der gewohnten polierten White-Cube-Ästhetik höherpreisiger Messen, die Kulisse für Rekord-Verkäufe sind: Vor der ehemaligen Tabakfabrik, die 1990 geschlossen wurde und deren Räume nach langen Überlegungen zur Nutzung zu einem Ort für Kunst und Kultur mit wechselnden Ausstellungen, Artist-Residencys und einem Freiluftkino wurde, skaten Jugendliche. Die Mauern der Bahntrasse, an die es grenzt, sind mit Gaffiti besprüht. Daneben wird in der Mittelmeersonne Basketball gespielt. Entsprechend ist auch das Publikum ein besonderes. Die Tickets kosten zwischen drei und acht Euro, das Begleitprogramm aus Videopräsentationen und Talks kann man sich auch ohne Eintrittskarte ansehen. Eine hippe junge crowd tummelt sich hier – man kennt sich.
Beeinflusst vom Standort am Meer
Durch ein gusseisernes Tor gelangt man auf den Hof des Geländes, im Erdgeschoss des Gebäudekomplexes ist eine Kantine mit einem Buchladen und einem kleinen ersten Ausstellungsraum, der noch bis November von Prune Phi und Sandar Tun Tun bespielt wird. Ein Stockwerk darüber findet die Abschlussausstellung von Kunst- und Designstudierenden der Marseiller Kunsthochschule statt. Mehrere der Werke sind beeinflusst von dem Standort am Meer.
Von dem Flair der Hafenstadt waren auch einige der Stände der Hauptmesse eingefärbt: Maritime Themen und sommerlich bunte Werke bestimmten die Szene, die sich im ersten Stock auftat. Gleich am Eingang wurde man bei der Mailänder Galerie Castiglioni von Werken der Künstlerin Flaminia Veronesi begrüßt, die pastellige Meerjungfrauen-Arbeiten zeigte, von einem großen Wandteppich über kleine Objekte und Zeichnungen bis zu einer poppigen Muschelskulptur.
Muscheln und Unterwasserwelten bestimmten bei Foku, einer estnischen Gemeinschaft von Fotografinnen und Fotografen, die Arbeiten der estnischen Künstlerin Kristina Õllek, die sich mit der Verschmutzung der Meere auseinandersetzt. Die Protagonisten in Õlleks Fotografien sind Quallen und Muscheln, die oft unsichtbaren Meeresbewohner, die zwischen Vegetation und Tierwelt zu oszillieren scheinen und doch essentiell für das Ökosystem der Ozeane sind. Eingebettet in mit Sand, Kunstharz oder Silikon ummantelte Rahmen, die eine Symbiose mit den Bildern bilden, werden die Fotografien zu fantastischen Wandobjekten.
Auch bei In Situ aus Paris wurde es maritim: Neben Collagen des Trios Ramin Haerizadeh, Rokni Haerizadeh, Hesam Rahmanian zeigte die Galerie Arbeiten des Amerikaners Mark Dion. Beeinflusst von der Fischereiindustrie in seiner Heimatstadt New Bedford, tauchen Meeresflora und -fauna in mehreren seiner Werke auf, die an Zeichnungen zur Artenbestimmung angelehnt sind, oder in seinen modernen Wunderkammer-Assemblagen.
Die Marseiller Galerie Double V zeigte indes bunte korallenartige Objekte von Ugo Schiavi. Erst auf den zweiten Blick entpuppen sie sich als Schaumstoffgebilde, aus denen Drähte und Plastikflaschenhälse ragen. Wie auch das restliche Oeuvre des französischen Künstlers beschäftigen sich die kleinen Skulpturen mit Archäologie und Spuren menschlicher Zivilisation – nur wagen diese Werke einen düsteren Blick in eine Zukunft, in der wir der Nachwelt vor allem Landschaften aus Müll hinterlassen.
Die Brüsseler von Meessen De Clercq präsentierten ein paar Meter weiter Hybridwesen von Theo Massoulier, die wie extraterrestrische Käfer hinter Schauglas platziert waren; auf einem Podest in der Mitte des Standes ein pastellfarbenes Insekten-Wolpertinger, aus dem es kreucht und fleucht, und das wie ein fantastisches Biest zum Angriff bereit scheint.
Wie aus der Zukunft wirkten auch die Präsentationen bei der Everyday Gallery aus Belgien, Nicoletti London und M. LeBlanc aus Chicago. Bei ersterer wurden Sci-Fi-Gebilde von Jean-Baptiste Janisset gezeigt – inklusive einer Video-Arbeit, in der sich animierte Fahrzeugwesen durch eine felsige Landschaft bewegen, und die in einen cyber-punkigen Metallrahmen gefasst ist. Dagegen erschienen die Wandarbeiten von Manal Kara, die bei M. LeBlanc neben den comichaften Gemälden von Vincent Larouche hingen, wie postapokalyptische Kunstgegenstände, gefertigt aus den Überbleibseln des Anthropozäns.
Auch die Werke von Pierre Unal-Buret bei Nicoletti sind von Science-Fiction beeinflusst. Die Mixed-Media-Objekte und Wandarbeiten, die der ambitionierte Angler aus Strandgut kreiert, schöpfen aus der Ästhetik von Fischen und Meerestieren und geben den Eindruck post-apokalyptischer Wesen der Unter(wasser)welt.
Antoine Donzeaud bei Exo Exo widmete sich ganz dem Jetzt: Von mehreren Seiten konnte man seine Installation betreten. In kleinen Nischen, durch bemalte Lamellenvorhänge voneinander getrennt, sah man Fremden beim Weinen zu. Für die Arbeit hat Donzeaud aus dem Konvolut der Kurzvideos auf Instagram und Tiktok geschöpft, in denen das Weinen, für gewöhnlich eine Geste des Privaten, zur Schau gestellt wird – etwa, wenn Nutzerinnen oder Nutzer von traumatischen Erfahrungen berichten oder Sympathie mit dem Publikum vor dem Handybildschirm aufzubauen versuchen, indem sie Vulnerabilität suggerieren.
Bei der Galerie Eins aus Zypern trat man ganz nah an den Körper des Künslers Leonitos Toumpouris heran. In einer Reihe waren drei Bleiglasfenster aufgestellt, die die Hände des Künstlers zeigen, daneben eine zunächst nicht definierbare Skulptur, deren metallene Streben glatte organische Terrakottaplatten halten. Bei näherem Hinsehen entpuppen sich die Formen darauf als Stimmlippen; eine Verbildlichung von Toumpouris‘ Stimme.
Auf der Suche nach Malerei beeindruckten vor allem O-Town House aus Los Angeles, die manchen von der Art Berlin ein Begriff sein könnten, mit den zarten und doch eindrucksvollen Porträts von Constantin Nitsche. Davor standen die "Social Sculptures" von Adam Stamp, auf denen man zur Ruhe kommen oder ein Glas Rosé trinken konnte.
Wie Fantasiewesen schweben in Pastelltönen die Figuren in den Gemälden von Barbara Tavella durchs Bild, die bei der süd-tiroler Galerie Doris Ghetta zu sehen waren. In der Doppelpräsentation bei Bombon aus Barcelona standen die selbstbewussten Frauenporträts von Mari Eastman den Stoffarbeiten von Rosa Tharrats gegenüber, die in langen Bahnen von der Decke hingen.
Bei Gæp aus Bukarest kam dafür richtiges Urlaubsgefühl auf. Vor bunten Gemälden von Damir Očko war ein Tischlein mit seinen – nennen wir sie Mocktails – aufgebaut: in Martini- und Colada-Gläser glitzert und schimmert es. In den Kunstharzen, die nach Affogato al Caffè oder curacao-blauem Swimming-Pool aussehen, hängen Goldketten und Kunststoffkristalle.
Die Verbindung zu der Marseiller Kunstszene zeigte sich in der Präsenz lokaler – teils kommerzieller, teils gemeinnütziger – Projekte, die in die Messe eingebunden sind. So bespielte beispielsweise der von Elise Poitevin und Anne Vimeux gegründete Kunstraum Sissi Club, der neben Ausstellungen auch Performances und Vorträge organisiert, einen eigenen Booth auf der Kunstmesse.
An dessen schwarz glänzenden Wänden hingen Werke der Pariser Künstlerin Inès Di Folco. Ihre größtenteils Schwarzen Frauenfiguren bewegen sich in fantastischen Räumen und geben sich als zeitgenössische Interpretationen des Magischen Realismus. Parallel zeigen die jungen Kuratorinnen in ihrem Project Space in der Stadt noch bis zum ersten Oktober Werke von Victoria Palacios: lavendelfarbene Traumszenen, durch die Mimen tanzen.
Von der Messehalle führt eine Treppe nach draußen zu einem kleinen Anbau. Hier waren die Gewinnerinnen und Gewinner des im Zuge des Festivals ausgeschriebenen Prix Region Sud zu sehen, ebenso sowie die Installation der Künstlerresidenz Moly-Sabata.
Mit dem South Way Studio war in der oberen Etage, im Design-Bereich der Art-O-Rama, ein weiterer Standort vertreten, der auch abseits der Messe einen Besuch wert ist. In dem Künstlerhaus, das im Marseiller Stadtteil Mazargues gelegen ist, taucht man ein in eine märchenhafte Welt voller liebevoll gestaltetem Kunsthandwerk. Wer bleiben möchte, kann ein Zimmer für die Nacht buchen.
Die Sommermesse Art-O-Rama fügt sich organisch in eine Reihe an Events und Ausstellungen ein, die in den warmen Monaten die Kunstwelt Südfrankreichs zum Leben erwecken. Ferienstimmung kommt auf, trotz der Hitze herrscht gute Laune. Angesprochen wird aber, trotz der Bandbreite an Ländern, aus denen die Galerien kommen, vor allem ein Marseiller oder zumindest französisches Publikum.
Und auch die Projekte, die vorgestellt wurden, spiegelten die lokale Szene. Nichtsdestotrotz lohnt sich ein Abstecher während des jährlichen Frankreichurlaubs, vor allem, wenn man eine Alternative zum vollen Kunstherbst sucht – oder nach kleinen Schätzen in einem etwas niedrigeren Preissegment.