Anselm Kiefer kreiert auf den Ruinen der Geschichte. Das Ergebnis: graue, mit Asche und Stroh bedeckte, skulpturale Landschaftsbilder, in Gipsmäntel gehüllte Sonnenblumen und Bleibücher, riesige Tafelbilder, in denen die Sonne explodiert und die Erde einstürzt. Kiefer ist nicht wegen der Kunst zur Malerei gekommen. Für ihn ist die Malerei eine Reflexion, eine Recherche. Anselm Kiefer, der am Sonntag (8. März) 75 Jahre alt wird, arbeitet an der Erinnerung, der Mythologie, an der Welt.
Dabei hat er einen unverkennbaren Stil geschaffen: großzügige Verwendung von Farbe, Blei und organischen Materialien, Menschenleere in einer trostlosen und gespenstischen Stimmung. Seine Bilder erinnern an die Verbrennung von Büchern und Schriften, an den Holocaust, an verlorene Kulturen, aber auch an das Geheimnis der Beharrlichkeit, in der Zeit zu sein. Als Leser des Philosophen Martin Heidegger ist er der Überzeugung, dass die Schöpfung auf einem Hin und Her zwischen Nichts und Etwas basiert.
Ein Thema, das er auch in seinen jüngsten "String-Arbeiten" aufgreift, die er vor Kurzem in einer umfassenden Solo-Schau in der Londoner Galerie White Cube präsentiert hat. Monumentale Arbeiten, die apokalyptisch wirkende Landschaften zeigen, über die rautenförmige Netze schweben. Eines der Bilder ist dem amerikanischen Mathematiker und Physiker Edward Witten gewidmet, der unter anderem mit seinen grundlegenden Arbeiten zur Stringtheorie bekannt wurde. Vereinfacht besagt sie, dass alles miteinander verbunden ist: Nichts und Etwas, Raum und Zeit, Leben und Tod, das Allerkleinste und das Allergrößte.
Kindheit zwischen Trümmern
Kiefer schöpft seine Inspirationen aus einem umfassenden Fundus an historischen, philosophischen, literarischen und mythologischen Bezügen. Eines seiner ersten Themen war die deutsche Geschichte und Kultur. Darin verarbeitete er seine eigene Biografie. Kiefer wurde im März 1945, kurz vor Ende des Zweiten Weltkriegs, in Donaueschingen im Schwarzwald im Schutzkeller eines Krankenhauses geboren. Seine Kindheit hat er zwischen Trümmern verbracht. Ruinen, Menschenleere und eine zerstörte Welt sind zu immer wiederkehrenden Themen in seinem Gesamtwerk geworden; Asche, Schutt, Ruß und Blei zu seinem Material.
Deutschlands Geisteshelden, nordische Mythen, Hermannsschlacht: Kiefers Motive sorgten in Deutschland jahrzehntelang für kontroverse Diskussionen. Als ästhetische Faszination des Faschismus und Wiederbelebung altgermanischer Mythen wurden sie von manchen Kritikern verurteilt. Er war der erste deutsche Künstler, der das Tabu der Darstellung von Nazisymbolik brach. Ende der 60er Jahre stellte er sich an verschiedenen Orten Europas mit dem Hitlergruß dar - für ihn eine notwendige Provokation, um an die Pflicht zur Erinnerung aufmerksam zu machen.
"Meine Biografie ist die Biografie Deutschlands", erklärte er später. "Margarethe" aus dem Jahr 1981 illustriert diese Allgegenwart der Geschichte in seinem Werk perfekt. Das Gemälde ist von dem Gedicht "Todesfuge" des deutsch-jüdischen Dichters Paul Celan inspiriert, dessen Eltern in einem Konzentrationslager ermordet wurden. "Der Tod ist ein Meister aus Deutschland" ist einer von Celans berühmtesten Sätzen.
Der Welt so nah wie möglich
In Frankreich, wo Kiefer seit Anfang der 90er-Jahre lebt und arbeitet, gilt er als intellektueller Künstler aus Deutschland. In dieser Rolle wurde er 2010 als erster bildender Künstler an das Collège de France gerufen, wo vor ihm Roland Barthes und Claude Lévi-Strauss lehrten, zwei der bedeutendsten Köpfe Frankreichs. Im Jahr 2008 erhielt er als erster bildender Künstler den Friedenspreis des Deutschen Buchhandels mit der Begründung, dass er "im richtigen Moment" erschienen sei, "um das Diktat der unverbindlichen Gegenständlichkeit der Nachkriegszeit" zu überwinden.
Die Stringtheorie bewegt sich laut dem deutschen Astrophysiker und Wissenschaftsjournalisten Harald Lesch am Rand der erkennbaren Wirklichkeit. Sie ist ein Versuch, das Universum zu beschreiben. Und darin liegt die Faszination, die dieser Denkansatz auf Kiefer ausübt. Denn auch Kiefer versucht in seinen Werken, der Welt so nah wie möglich zu kommen.