Annie Leibovitz wird von der Galerie Hauser und Wirth repräsentiert, die auf der letzten Art Basel ihre Fotografien zeigte. Ende November wird sie in der Galerie in Hongkong eine große Ausstellung haben. Es ist unergiebig, zu überlegen, ob sie damit zur Kunstwelt gehört oder nicht, denn die Fotografin Annie Leibovitz ist ihre eigene Kategorie. Tatsächlich studierte sie aber eigentlich Malerei am San Francisco Art Institute, abends nahm sie Fotografie-Unterricht. Als sie 1970 in San Francisco als Fotografin beim "Rolling Stone" anfängt, studiert sie offiziell noch. Und zieht plötzlich mit den Autoren Hunter S. Thompson oder Tom Wolfe los, um im Weißen Haus fotografieren, oder um mit den Rolling Stones auf Tour zu gehen. Wo sie alles macht, was man auf einer Rolling Stones Tour in den 70ern eben tat.
"Ich war ja noch ein Kind, und man musste da wirklich die Klappe halten, wenn man nichts Wichtiges zu sagen hatte", sagt sie einmal. "Außerdem musste man einen guten Sinn für Humor haben und natürlich auch lernen, zu trinken und Drogen zu nehmen. Ich habe mein Bestes getan."
Wertvolle Zeit nicht vor weißen Wänden vergeuden
Als sie anfing, für die Titelbilder des "Rolling Stone" Musiker zu fotografieren, stellte man die Bands noch ins Studio vor einen neutralen Hintergrund. Irgendwann kritisierte sie jemand dafür: Sie habe nichts aus der Begegnung gemacht und die wertvolle kurze Zeit mit den Stars einfach vor irgend einer weißen Wand vergeudet. Die Kritik wandelte sie um in Ideen.
Zuerst inszenierte sie ziemlich plakativ: Als 1980 der Film "Blues Brothers" herauskam, ließ sie die Gesichter der Schauspieler Dan Aykroyds und John Belushis blau anmalen, als Hollywood-Star Bette Midler in "The Rose" spielte, legte Annie Leibovitz sie auf ein Bett aus Rosen. Aber: Sie ließ jeden einzelnen Dorn entfernen. Akribie und überproportionaler Aufwand sind geblieben, um das Bild zu bekommen, das ihr vorschwebt.
Dass sie die Leute bekommt, ist ohnehin klar. Sie bekommen dafür ikonische Bilder. Ihre Version von Michael Jackson – schwerelos auf Zehenspitzen, der Wind reißt das Hemd auf – ist die beste Version von ihm, die es je gab. John Lennon, in Embryonalstellung um Yoko Ono geschlungen, wurde fünf Stunden nach der Aufnahme erschossen. Annie Leibovitz ist vermutlich die einzige Person, die der Queen je vorschrieb, was sie mit ihrer Krone zu machen habe.
"Annie Leibovitz. Portraits 2005–2016" zeigt ihr Werk nach dem Tod ihrer Lebensgefährtin Susan Sontag. Die wollte Leibovitz zu relevanteren Themen drängen, reiste mit ihr in den Jugoslawien-Krieg und initiierte als Co-Autorin eine sehr schöne, stille Serie über amerikanische Frauen ("Women"). Doch Annie Leibovitz bleibt mit aller Professionalität dem Entertainment verpflichtet. Ob Obama im Oval Office, ob Stephen Hawking oder Marina Abramović als Schlangenfrau, ihr aktueller Stil atmet das Pathos des Großmeisterlichen, gedeckte Farbigkeit und Opulenz. Trotzdem bleibt sie hellwach für gegenwärtige Phänomene: Das Selbstbespiegelungssystem von Kim Kardashian und Kanye West zum Beispiel verbildlichte sie präzise, ohne sich über deren Selfiekult zu stellen. Das gelingt nur jemandem, der so bedingungslos an die Bilder glaubt wie sie.
Annie Leibovitz feiert ihre Stars größtmöglich ab, hat aber auch unbeirrbar daran gearbeitet, selbst unberührbar zu sein wie ein Star. Wie viele Fotografen griff sie zunächst zur Kamera, um ihre eigene Schüchternheit auszutricksen. Denn wer fotografiert, muss ansonsten nicht besonders performen. Doch dann verwandelte sie ihre Außenseiterposition schnell in Stärke. Auf einem Flugfeld in Florida soll sie ein besonders scheußliches Auftragsfoto schießen: Auf den Stufen eines Privatjets posiert hochschwanger ein halbnackte Frau wie eine Trophäe, in seinem Mercedes SLS 300 MG rollt der Besitzer vor, es ist Donald Trump. Annie Leibovitz ruft ihm fröhlich zu: "Klar mache ich das, ich habe deine letzte Frau doch auch fotografiert!"
Annie Leibovitz wird am 2. Oktober 70 Jahre alt, und das Tollste ist vermutlich, wie unbeeindruckt und gleichzeitig engagiert sie ihren Job macht, egal mit wem sie es zu tun hat: Am Ende ist immer sie es, deren Ansagen befolgt werden.