Aus Vorstellungskraft wird Realität: Der in Barcelona und Madrid lebende argentinische Designer und Künstler Andrés Reisinger kreiert digitale (Traum-)Welten, die nicht selten als physische Objekte enden. Alles fing 2018 an, als er auf Instagram die digitale Skizze seines flauschigen Blütensessels "Hortensia" postete und damit viral ging. Nach wenigen Tagen gab es unzählige Anfragen für das Sitzmöbel in Zartrosa, das es zu diesem Zeitpunkt noch gar nicht als reales Stück gab. Seitdem macht Reisinger immer wieder durch seine "Take Overs" von sich reden. Dabei verkleidet er bekannte Großstadt-Orte in rosa Stoffbahnen, ein bisschen wie eine Pastellversion der Verhüllungskünstler Christo und Jeanne Claude. Wenn Fotos der Aktionen in Social-Media Feeds-auftauchen, sollte man jedoch zweimal hinsehen.
Gebäude, die mitten in Weltmetropolen auf einmal pink leuchten, sind definitiv ein Blickfang und sorgen für Verwunderung. Noch größer wird aber die Überraschung, wenn klar wird, dass diese Installationen überhaupt nicht real sind. Bei Reisingers "Take Overs" handelt es sich nämlich um sehr realistisch wirkende, jedoch digitale Kunst. So lassen sich in den Kommentarspalten immer wieder Fragen nach Standorten und Öffnungszeiten der Installationen finden. Ein Missverständnis vieler Nutzer, welches die Hauptaussage seiner Kunst umso deutlicher unterstreicht: Eine täuschend echte Brücke zwischen Fiktion und Realität zu schlagen.
Aber auch diese virtuellen Werke wurden schließlich Wirklichkeit: Bei der Miami Art Week im Dezember 2023 verkleidete Reisinger ein "echtes" Gebäude im Design District mit unzähligen Stoffbahnen. Seitdem hat er auch Häuser in Madrid, Djidda und kürzlich in New York in ein rosa Gewand gehüllt. Auch Kunden wie Dior, Zara oder Audi beauftragen ihn für Videoclips, die einen so surrealen wie betörenden Charakter haben sollen. Wir wollten wissen, wie diese Arbeiten entstehen und wie der Künstler selbst auf sie blickt.
Andrés Reisinger, man könnte sagen, Ihr Museum ist Social Media. Es gibt keine Öffnungszeiten oder Eintrittspreise. Ist es Ihr Ziel, die Kunst für alle zugänglich zu machen?
Das ist einer meiner Schwerpunkte. Ich bin an einer Kunstform interessiert, die dem Betrachter eine neuartige Erfahrung bietet, die sowohl auf physischer als auch auf digitaler Ebene existiert.
Sehen Sie sich als Teil der traditionellen Kunstwelt oder einer neuen Ära, die sich hauptsächlich in den sozialen Medien abspielt?
Ich habe immer versucht, strenge Definitionen zu vermeiden, da ich glaube, dass sie Perspektiven einschränken und Möglichkeiten verhindern. In diesem Sinne habe ich mir diese Frage nie gestellt. Ich kreiere auf der Grundlage meiner Wahrnehmung der zeitgenössischen Welt um mich herum und versuche, die Bedeutung zu erfassen und sie durch meine Linse zu vermitteln. Ich glaube nicht an Trennungen oder Alternativen; ich glaube an die Konvergenz scheinbar weit entfernter Elemente. Die unerwarteten Ergebnisse, die sich aus diesem Prozess ergeben, sind für mich viel interessanter.
Sie sind vor allem für Ihre digitalen "Take Overs" bekannt. Es gibt unterschiedliche Meinungen über die potenziellen Auswirkungen des Metaverse. Wie wird es Ihrer Meinung nach Gesellschaft und Kultur langfristig beeinflussen?
Im Mittelpunkt meiner Arbeit steht die Konvergenz der greifbaren und digitalen Welt, angetrieben von meinem Wunsch, transformative Möglichkeiten für unsere Gegenwart und Zukunft zu erschließen. Über das unmittelbare Engagement hinaus stelle ich mir vor, dass diese Verbindungen echte menschliche Interaktionen fördern, die über unser heutiges Verständnis hinausgehen: etwas, das nicht nur unsere täglichen Erfahrungen bereichert, sondern auch den Grundstein für eine Zukunft legt, in der Technologie, die als menschliches Werkzeug anerkannt wird, unsere Verbindungen über verschiedene Bereiche hinweg verbessert.
Wie das?
Ich glaube aufrichtig daran, dass die digitale und die physische Welt sich gegenseitig informieren und ergänzen können. In künstlerischer Hinsicht kann uns die Freiheit der digitalen Welt lehren, unsere kreativen Grenzen zu erweitern und neue Möglichkeiten zu erkunden, die über das hinausgehen, was wir bisher für erreichbar hielten. Sie ermöglicht es uns auch, eine digitale Nachfrage zu schaffen, bevor wir physische Produkte herstellen, und so die Verschwendung zu reduzieren. Mein "Hortensia"-Sessel ist ein Beispiel für diesen Ansatz.
Skizzieren Sie zunächst Ihre Ideen oder Entwürfe? Erzählen Sie uns bitte von Ihrem kreativen Prozess.
Alles beginnt mit meiner Neugier auf ein bestimmtes Thema, gefolgt von intensiver Recherche - lesen, schreiben, denken, Ideen austauschen und so weiter. Erst wenn die Theorie und die Idee in all ihren Ausprägungen klar in meinem Kopf sind, beginne ich, sie tatsächlich zu gestalten und ihnen eine Form zu geben.
Von wem lassen Sie sich inspirieren? Ihre Kunstwerke wirken ein weig wie eine moderne Interpretation der Verhüllungsaktionen von Christo und Jeanne-Claude ...
Ich lasse mich von allem inspirieren, was mein Leben umgibt - sowohl zeitgenössisch als auch historisch. Vom Alltäglichen bis hin zum Erhabenen sind alle Ausdrucksformen für mich interessant - Kunst, Mode, Literatur, Philosophie, Spiritualität, Musik und Architektur. Philosophie und Literatur sind wichtige Wegweiser für meine Herangehensweise, da ich in meinem kreativen Prozess von Theorien ausgehe und ihnen erlaube, die Form meiner Kreationen zu gestalten. Vor allem aber berühren mich die komplizierten Prozesse der Natur und die sich ständig weiterentwickelnden Muster, die in ihrer Komplexität unendlich faszinierend sind.
Sie sind Argentinier. Hat das kulturelle Erbe Ihres Landes die Ästhetik Ihrer Arbeit beeinflusst?
Mein Umfeld hat meine Arbeit immer entscheidend geprägt. Als ich in Argentinien aufgewachsen bin, hat mich das reiche, vielfältige und lebendige kulturelle Erbe des Landes geprägt und in mir eine tiefe Neugierde und Wertschätzung für Einzigartigkeit geweckt. Der ausgeprägte Gemeinschaftssinn in Argentinien weckte auch meinen Wunsch, meine künstlerische Reise mit einem breiten Publikum zu teilen, insbesondere über digitale und soziale Medien: Dieser Aspekt des Teilens ist ein wesentlicher Bestandteil meiner Kunst. Die natürlichen Landschaften Argentiniens und meine Erfahrungen in ihnen haben mich zutiefst inspiriert und die Natur zu einem zentralen Thema in meinem kreativen Prozess gemacht.
Fast alles, was Sie designen, ist rosa. Warum?
Die Wahl der Farbe Rosa geht über die Ästhetik hinaus; sie ist eine philosophische Reise in das menschliche Wesen und die emotionale Resonanz. Rosa ist ein Symbol, das verschiedene Bedeutungsebenen in sich vereint, die sowohl persönlich als auch allgemein verständlich sind. Auf einer grundlegenden Ebene steht Rosa für Wärme, Komfort und Sicherheit. Diese Empfindungen sind tief verwurzelt und verbinden uns mit Urerinnerungen an Geborgenheit - vielleicht sogar im Mutterleib. Und genau dieses Gefühl der Geborgenheit kann die Farbe Rosa einem Raum oder Objekt verleihen. Doch über das Persönliche hinaus hat Rosa auch eine universelle Dimension. Sie fungiert als die innere Farbe, die alle menschlichen Körper teilen, in unseren inneren Organen, ein gemeinsamer Faden, der uns miteinander verbindet. Meine Absicht ist es, diese gemeinsame menschliche Erfahrung von Einheit und Zugehörigkeit zu betonen.
Ihre Werke wirken wie eine poetische Traumwelt, in der niemand etwas kaputt machen und in der man seinen Gedanken freien Lauf lassen kann. Eine friedliche Welt. Sind Ihre digitalen Welten auch ein Rückzugsort für Sie?
Ja, und das gilt auch für den Akt des Schaffens. Wenn ich Kunst produziere, muss ich im tiefsten Sinne ruhig sein.
Im Laufe der Zeit haben sie immer öfter physische Installationen realisiert. Sind Sie dabei in der Lage, Ihre künstlerischen Visionen wie in der digitalen Welt auszuleben?
Der Übergang vom Digitalen zum Physischen ist in meiner Arbeit immer organisch und aus reiner Neugierde geschehen, daher war es keine Herausforderung. Es steckt immer eine Absicht hinter einem Kunstwerk, aber es ist viel interessanter, diese Kreation leben und ihr einen eigenen Lauf zu lassen. Dies ist der Fall bei "Take Over", das als digitales Kunstprojekt begann und sich in physische Installationen in Miami, Djidda, Madrid und kürzlich in New York City, durch eine Zusammenarbeit mit der grausamkeitsfreien Luxusmarke Hourglass, verwandelte. Es ist schon komisch, dass ich mir weder bei "Take Over" noch bei "Hortensia" das Ziel gesetzt habe, sie physisch umzusetzen, als ich sie zum ersten Mal kreierte. Aber ich glaube, es war vorherbestimmt, dass ich in meiner Karriere in diesem Grenzbereich zwischen dem Digitalen und dem Physischen arbeiten würde.
Gibt es Vorteile des Physischen?
Es gibt eine Konversation, es gibt einen Treffpunkt. Meine Arbeit konzentriert sich auf eine Erfahrung, sei es im physischen oder im digitalen Bereich. Das Verständnis ihrer Unterschiede, Gemeinsamkeiten und Berührungs- und Reibungspunkte ist für mich faszinierend. Wenn ich etwas erschaffe, betrachte ich es nicht als fertiges Produkt, sondern als etwas, das geboren wird und in der Lage ist, seine Existenz in verschiedenen Formen weiterzuentwickeln. Es gibt keine Grenzen für mich oder das Kunstwerk, und ich schreibe diese Flexibilität der zutiefst menschlichen Erfahrung zu, aus der meine Arbeit stammt - es ist diese tiefe Menschlichkeit, die vielfältige Übersetzungen meiner Kunst ermöglicht.
Lassen Sie sich von den Merkmalen der Städte, in denen ihre "Take Overs" stattfinden, inspirieren?
Ich habe Städte genommen und einige der bekanntesten Viertel in fließende Installationen gehüllt, die von den Besonderheiten der jeweiligen Hauptstadt inspiriert sind: Paris zum Beispiel war in raffinierte und minimalistische Silhouetten gehüllt, New York dagegen in extravagante und performative Verkleidungen. London zeigte sich in Schichten unterschiedlicher und vielfältiger Texturen, Tokio in einer Explosion majestätischer und unterhaltsamer Szenografien. Rom hingegen in Umhängen, die an den Glamour von Cinecittà erinnern. Ich habe das Projekt als eine Theateraufführung konzipiert, bei der die Straßen selbst zu Protagonisten eines neuen Stücks werden, das immer ein surrealistisches Element enthält.
Sie haben mit bekannten Marken wie Dior und Audi zusammengearbeitet, zuletzt mit Golden Goose und Ami Paris. Wie bringen Sie Ihre künstlerischen Visionen mit den Kollaborationen in Einklang?
Ich wähle Partnerschaften mit Marken, die meine Arbeit respektieren und mein kreatives Wesen verstehen. Von Anfang an basiert unsere Zusammenarbeit auf der Wertschätzung meiner Kreativität und meines freien kreativen Geistes. Das ist entscheidend, denn wir müssen zusammenarbeiten, um neue Ideen, kühne und unerforschte Gebiete zu entwickeln. Ich habe unglaubliches Glück gehabt, denn alle Kooperationen, an denen ich teilgenommen habe, waren einfach wunderbar. Ich habe jede Sekunde des Prozesses genossen und bin stolz auf das, was wir gemeinsam erreicht haben. Ich denke, es ist so wichtig, dass wichtige Akteure wie die, mit denen ich zusammengearbeitet habe, sich an der Diskussion über digitale Kunst beteiligen; durch ihre Unterstützung geben sie der digitalen Kunst eine Plattform, auf der sie auftreten kann.
2023 haben Sie ihr Buch "Unclassifiable" veröffentlicht. Was genau an Ihrer Arbeit ist nicht klassifizierbar?
Alles. Ich habe immer darauf hingearbeitet, dass meine Arbeit nicht einzuordnen ist und lehne Klassifizierungen ab. Die Schönheit des künstlerischen Ausdrucks liegt in seiner Fluidität und der Fähigkeit, Grenzen zu überschreiten. Für mich ist die Umarmung des Unklassifizierbaren eine bewusste Entscheidung, durch die vielfältigen Landschaften der Kreativität zu navigieren, ohne durch festgelegte Kategorien eingeengt zu werden. So kann meine Arbeit in einem freien Bereich existieren, der einen dynamischen und sich entwickelnden Ausdruck fördert.
Was können wir als Nächstes erwarten?
Einige Veränderungen und Entwicklungen in meinen Studios in Barcelona und Madrid - und unzählige weitere Dinge, die einfach auftauchen werden, ohne dass ich weiß, dass sie da sind.