"Was ein Kind empfindet, das im Neuschnee seine Spuren hinterlässt, zählt zu den mächtigsten ästhetischen Triebkräften." Das hat der in Sachen Kitsch ja eigentlich unverdächtige Theodor W. Adorno gesagt. Was genau ist es, das uns am Schnee so fasziniert?
Das ist die Frage: Was ist Schnee eigentlich, was macht ihn so besonders? Was bei Adorno anklingt, ist die Idee der Aufzeichnung: Schnee hat die Fähigkeit, all das Leben, das auf ihm vorbeizieht, auf eine Art und Weise aufzuzeichnen, wie es auf der Erde normalerweise nicht der Fall ist. Daher machen Kinder den Engel im Schnee. Gleichzeitig löscht der Schnee alles aus und hinterlässt eine Welt, als ob man nie da gewesen wäre. Daher symbolisiert der Schnee den Neuanfang, die tabula rasa, die Erneuerung der Welt, was natürlich zum Christentum und der Geburt Christi führt. Und ebenso zu den zahlreichen Vergleichen des Schnees mit einer Leinwand, mit dem weißen Blatt Papier, auf dem sozusagen die kreative Weltschöpfung beginnt.
Der Schnee als Allegorie fürs Schreiben – diese Idee findet sich von Thomas Mann und Franz Kafka bis zu Peter Hoeg oder Durs Grünbein. Und auch der in einem Hotel eingeschneite Jack Nicholson in "The Shining" ist ja eigentlich Schriftseller mit Schreibblockade, den die weiße Seite in den Wahnsinn treibt. Haben Sie ein literarisches Lieblingsbeispiel?
Es gibt diese wunderbare Geschichte von Italo Calvino: Marcovaldo, der vom Land kommt und in der Stadt arbeitet, wacht eines morgens auf und die ganze Stadt ist mit Schnee bedeckt. Auf seinem Weg zur Arbeit sieht er die Gebäude und Bürgersteige in weiß, und irgendwie stellt er sich vor, dass sich sein Leben verändert hat, weil sich die Stadt verändert hat. Es gibt etwas, das so schön und ergreifend an diesem Bild ist. Und dann kommt er zur Arbeit, und sie geben ihm eine Schaufel, damit soll er den Schnee wegräumen. Stattdessen entwickelt sich eine schier endlose Kette der Verwandlungen: Er bildet das Auto seines Chefs aus Schnee nach, so dass sein Chef herauskommt und in den Schnee fällt, weil er denkt, es sei sein Auto. Dann fällt der Schnee auf Marcovaldo und er verwandelt sich in einen Schneemann. Und so geht es immer weiter; eine Art endlose Metamorphose. Es gibt nichts anderes in der Natur, das dies vermag: Dass man einfach aufwacht und die Welt sieht ganz anders aus.
Für einen Großteil der Menschheit ist Schnee doch aber eher ein Mythos: In vielen Erdregionen schneit es nie; nicht mal Jesus wurde im Schnee geboren!
In bestimmten nördlichen Ländern haben Lichterfeste als Urform des Weihnachtfestes eine lange Tradition. Das moderne Weihnachten hat hingegen eine spezifisch amerikanische Dimension: diese Vorstellung von der idyllischen, romantisch verschneiten Kleinstadt in Neuengland. Interessanterweise wurde diese Idee von einem "White Christmas" zu einer Zeit propagiert, als die Industrialisierung voranschritt und sich das Land immer weiter von dieser ohnehin schon romantisierten Realität entfernte. Insofern war immer schon eine Portion Nostalgie dabei. Doch dank der kulturellen Macht Amerikas ist dieses Weihnachts-Ideal immer globaler geworden.
Sind Sie selbst denn in einer Schnee-Region aufgewachsen?
Nein, ich bin in Kalifornien aufgewachsen, die Winter waren mild. Und trotzdem hatte man immer das Gefühl, dass man etwas verpasst hat, wenn man keine weißen Weihnachten hatte. Diese Art von Küchenromantik um den Schnee herum hat sich globalisiert, was zeigt, wie machtvoll und allgegenwärtig diese kulturellen Bilder und natürlich die begleitende Konsumkultur sind. Man scheint fast nicht zu bemerken, dass es nicht geschneit hat, denn der Schnee war ja überall: In den Fernsehfilmen hat es geschneit, in den Malls dudelten die "White Christmas"-Songs hoch und runter. Und das, obwohl es aufgrund des Klimawandels immer weniger schneit. Bei meinem Projekt geht es mir einerseits darum, dieser uralten Faszination für Schnee als Versprechen auf Erneuerung nachzugehen. Und andererseits frage ich, was es bedeutet, wenn wir dieses Recht als Möglichkeit verlieren.
Als Stipendiatin der American Academy in Berlin schreiben Sie eine Kulturgeschichte des Schnees. Gab es einen Auslöser für Ihr Vorhaben?
Die Idee kam an einem bestimmten Tag hoch. Ich war in New York, wo ich seit vielen Jahren lebe. Es war Januar, und es war extrem warm und sonnig. Ich war in einem Museum, dem Whitney Museum, und wir waren auf der Terrasse und trugen T-Shirts, so mild war es. Wir gingen zurück in die Ausstellungsräume, und plötzlich sah ich an der Wand ein Gemälde mit Schnee von dem amerikanischen Maler Norman Rockwell. Der, wie ich herausfand, völlig besessen war von Schnee. Er hat ihn überall hin verfolgt und versucht, ihn zu malen und darüber zu schreiben. Wie auch immer, ich wusste nichts davon. Ich habe einfach nur dieses Gemälde gesehen. Und das war es. Schockartig wurde mir bewusst, dass es in diesem Winter nicht geschneit hatte. Und vermutlich auch nicht im Winter davor – was mir aber erst in diesem Moment so richtig klar wurde. Schnee gehörte immer zum Winter in New York, aber ich und alle anderen schienen das bereits vergessen zu haben. So entstand die Idee, etwas über diese Dialektik zu schreiben: der kulturellen und medialen Omnipräsenz von Schnee, während er realiter immer seltener vorkommt. Ich fing an, mir Gemälde von Schnee anzuschauen, weil ich dachte, dass dies in gewisser Weise die älteste visuelle Aufzeichnung ist. Gleichzeitig begann ich, wissenschaftliche Artikel über den Rückgang des Schneefalls zu lesen. In Skigebieten wie den Alpen oder den Anden schneit es seit Jahren signifikant weniger, mit Auswirkungen auf die Natur wie auf den Tourismus. Bei meinen Ausflügen in die Kulturgeschichte des Schnees stieß ich dann auch auf den Berliner Schneepalast aus dem Jahr 1927, einem ersten Beispiel für den Einsatz von Kunstschnee.
Was war das für ein Palast?
Der "Schneepalast" eröffnete zu Ostern 1927 am Berliner Kaiserdamm und war die weltweit erste Indoor-Skihalle mit zwei Schanzen, einer Rodelbahn und einer großen Freifläche. Darauf verteilt waren hunderte Tonnen Kunstschnee, eine ganz neue Erfindung des Briten Laurence Clarke Ayscough. Der Palast war Teil der Freizeitmesse "Das Wochenende" und sollte auch dem einfachen Arbeiter und seiner Familie einen Tag im Wintertraum ermöglichen. Das Ganze war so erfolgreich, dass kurz darauf auch in Wien ein Schneepalast eröffnete. Mich interessiert daran, dass wir offenbar schon vor 100 Jahren versuchten, Kontrolle über das eigentlich nicht beherrschbare Naturelement zu erlangen: Wann es schneit, liegt eigentlich nicht in unserer Macht, doch durch Kunstschnee können wir dieses Phänomen, das wir so lieben, verfügbar machen. Das ist ein typischer Gedanke der Moderne, ein Vorbote unserer Gegenwart, in der das Künstliche das Natürliche immer weiter verdrängt.
Die Freizeitwerke der 1920er-Jahre wurden von den Nazis weitergeführt – die NS-Organisation "Kraft durch Freude" war ein gigantisches Tourismus-Programm für Arbeiter. Dabei mit schwang immer auch ein anti-moderner Reflex, die Ideologie des naturnahen, gesunden Volkskörpers.
In diesem Sinne haben die Nazis auch die berühmten Bergfilme von Arnold Franck für sich vereinnahmt. Mit dieser Propaganda, dass die nordische Ethnie stärker ist und die Fähigkeit hat, dem Schnee zu trotzen. Und natürlich verbindet sich mit dem Schnee auch die Idee des Weißseins und der Reinheit, die in das rassistische NS-Weltbild passte. Aber auch über solche Propaganda hinaus geht mit dem Schnee die Idee der Vereinfachung der Welt einher. Das Kind wacht morgens auf, es hat über Nacht geschneit, und man schaltet den Fernseher oder das Radio ein, um zu hören, ob die Schule ausfällt. Die Welt ist hinter einer weißen Decke verschwunden. Der Verkehr kommt zum Erliegen, Geschäfte bleiben geschlossen. Alle Geräusche sind gedämpft. Die Welt verengt sich auf ein dörfliches Idyll, durch das man allenfalls mit dem Schlitten gleiten kann. Als ob alles Moderne weg ist. Alles Komplizierte, aller Stress verschwindet. Dein Verhalten ändert sich. Erwachsene spielen auf eine Art und Weise, wie es eigentlich nur Kinder tun. Daher rührt auch der hohe Grad an Nostalgie: Schnee versetzt uns zurück in unsere Kindheit.
Wie es Citizen Kane beim Blick in die Schneekugel widerfährt.
Exakt. Aber viele von uns haben ja ganz spezifische Erinnerung an die Schneetage ihrer Kindheit. Sie haben sich fest in unser Gedächtnis eingeprägt, und jedes Jahr zu Weihnachten glauben wir, zurück in diese heile Welt reisen zu können, auch wenn es nur eine imaginäre Reise ist.
Welche Rolle wird der Schneepalast in Ihrem Projekt spielen?
So genau weiß ich das noch nicht. Aber als Schriftstellerin stelle ich mir den Schneepalast als eine Art Gedächtnispalast vor. Eine Ansammlung von Räumen, in der all unsere Schnee-Geschichte aufbewahrt sind. Wie werden wir uns daran erinnern, wenn der Schnee verschwindet? Das ist eine der Fragen in meinem Buch.