Man muss diese neuen Bilder von Amy Sillman nicht lesen. Betrachten wir sie doch einfach als malerische Ereignisse, in denen Linien weit ausschwingen, vertikal abstürzen, sich heillos ineinander verknoten oder sich zu Gittern formieren, die mutmaßlich sagen: Hier nicht hingucken! Oder: Gucken nur auf eigene Gefahr!
Ebenso abenteuerlich die Farbklänge der großen Gemälde in der Galerie Capitain Petzel, während auf der Empore kleinere Malereien auf Papier in reduzierter Farbigkeit hängen, Grau und Gelb mit schwarzen Konturen. Unten aber herrscht das koloristische Delirium: Bonbonrosa trifft bitteres Grün und Dunkelrot ("Friend"). Auf dem großen Hochformat "Sad Meets Mad" umwölkt tieftrauriges Violett giftgelbe Flächen, die zu einer menschlichen Figur gehören könnten. Mit zwei parallelen knallroten Geraden hat Sillman ein Quantum Trotz über den Bildraum gesetzt, was die Konstellation in letzter Sekunde vor Fatalismus bewahrt.
Man kann also gar nicht anders – muss Amy Sillmans Bilder lesen. Der Sog, der von den Farbräumen der 1955 in Detroit geborenen Künstlerin ausgeht, hängt mit dem eigenartigen Oszillieren der Formen zwischen Gegenstandslosigkeit und Figuration zusammen.
"Stellen Sie sich die Wände als Sätze vor"
Sillman hat diese Entgrenzung – an sich nichts Neues in der Malereigeschichte – einmal mit dem sequenziellen Charakter ihrer Arbeiten erklärt: Auf dem einen Bild ist die Figur noch da, auf der nachfolgenden Leinwand kann sie sich aus dem Pigmentstaub gemacht haben. Abstraktion ist bei Sillman also kein Selbstzweck. Sie gestaltet die Zeit, gelebtes Leben, dabei formt sich ein kontinuierlicher Fluss mehr oder weniger "lesbarer" Zeichen. Manchmal sind diese Zeichen eher Sinnträger, manchmal erinnern sie an Interpunktion: Dass die Praxis der Künstlerin im Kern mit Schreiben zu tun hat (sie ist auch eine glänzende Essayistin, aber das ist nicht gemeint), wird in ihrer dritten Ausstellung bei Capitain Petzel nach 2011 ("Thumb Cinema") und 2017 ("ein paar") jetzt betont.
"Sillman hat diese Ausstellung als einen syntaktischen Raum konzipiert", schreibt Camilla McHugh im lesenswerten Einführungstext. "Stellen Sie sich die Wände als Sätze vor, Gemälde, die von auf Tafeln montierten Zeichnungen unterbrochen werden, wobei das Ineinandergreifen dieser visuellen Sprachen zu einer Art Grammatik wird. Wie kann ein Gemälde von der Empfindung des Umblätterns einer Seite beeinflusst werden?"
Der Lockdown-Mist, auf dem Kunst wächst
Der Ausstellungstitel "Rock Paper Scissors" weist auf die spielerische Natur dieser Kunst hin – und zugleich auf das kompetitive Moment, wobei ein und dieselbe Person sich im Wettstreit mit sich selbst befinden kann. Das ganze Schaffen von Sillman baut auf dem existenziellen Zwiespalt des Individuums auf, vor allem auf den Unzulänglichkeiten des menschlichen Körpers, der in der Regel von zwei Beinen getragen wird, deren Bewegungsabläufe mal mehr, mal weniger gut aufeinander abgestimmt sind. Das Straucheln und Stolpern, Ungeschicklichkeiten und Peinlichkeiten aller Art und vor allem auch das body shaming sind zentrale Motivationen ihrer Kunst. Wobei die Künstlerin aus der humanen awkwardness – ein Schlüsselbegriff bei Sillman – die spröde Schönheit ihrer Bilder schöpft.
Da der Körper aber nicht frei von äußeren Bedingungen vor sich hin stolpert, tritt bei den Bildern der hinreißenden Schau noch etwas hinzu: Dass Sillman das Gros der Exponate 2021 während des Corona-Lockdowns im New Yorker Atelier schuf, meint man den besonders verdichteten und verschachtelten Bildräumen anzusehen. Und dass bei dem Großformat "Friend" offenbar zwei Figuren an den Bildkanten zu sehen sind, die nicht zueinander können, obwohl sie es vielleicht wollen – ein ausgestreckter Arm oder Rüssel deutet es zumindest an –, erzählt viel über Einsamkeit, über Menschen als soziale Wesen und über diesen verfluchten Corona-Mist, der uns doch zeigen kann, was wir sind, und auf dem neue großartige Sillman-Bilder gewachsen sind