Bevor wir im Herbst 30 Jahre friedliche Revolution feiern, sollten wir den Rest des Sommers vertanzen. Der großen weltgeschichtlichen Umwälzung ging nämlich eine musikalische Revolution voran, die das Ende des Kalten Krieges vorwegnahm und die frei gewordene Energie aufgriff: In afroamerikanischen und schwulen Communities in Chicago und Detroit entstanden sickerten House und Techno Ende der 80er in den westeuropäischen Mainstream, veränderten die Clubkultur, bescherten den Briten einen zweiten "Summer of Love" und den Deutschen eine Loveparade – und explodierten nach dem Fall der Mauer.
In einer Zeit des wiedererstarkenden Nationalismus weckt der weitgehend ideologiefreie und internationale Hedonismus der frühen Ravekultur gerade wieder Sehnsüchte. Kürzlich wurde die grandiose Doku "Everybody In The Place - An Incomplete History of Britain 1984 - 1992" des Künstlers Jeremy Deller im BBC ausgestrahlt, darin erzählt er einer heutigen Schulklasse die Geschichte von Acid House in England. Die Londoner Saatchi Gallery zeigt die Schau: "Sweet Harmony: Rave/Today" mit Zeitdokumenten und Kunstwerken, die den über Europa schwebenden Ravegeist einfangen (siehe Bildstrecke oben). Und in Berlin hat der DJ Dr. Motte eine Ausstellung zum Jubiläum der von ihm mitbegründeten Loveparade kuratiert.
Auch wenn die ersten Jahre nach Mauerfall gar nicht so "Friede, Freude, Eierkuchen" waren, wie der Loveparade-Schlachtruf damals glauben machte (Ruanda! Jugoslawienkriege! Putsch in Russland! Rechtsradikaler Terror in Ostdeutschland!), wirken die Bilder von damals doch in ihrer Unschuld überwältigend: Hier tanzen Menschen, die das Internet zumeist noch nicht persönlich kennen, und die fortlaufende Inszenierungen der sozialen Medien liegen noch Jahre entfernt.
Wann kommt endlich der dritte Sommer der Liebe? Wenigstens als Behauptung, einige wenige Wochen lang?