"Nur schüchterne Leute finden meine Porträts frech. Sie sind nicht frech. Sie zeigen die Wahrheit", sagte Alice Neel in einem Interview in den 80er-Jahren. Die Wahrheit, das war das einzige Konzept, das ihre Kunst trug – und das im Jahrhundert der Abstraktion und der Konzeptkunst. Fast ihr ganzes Leben lang verbrachte die am 28. Januar 1900 in Pennsylvania geborene Künstlerin deshalb in Armut. Neel lebte zeitweise in Kuba, zog 1932 nach New York, wo sie 1935 Mitglied der Kommunistischen Partei wurde. Ihre beiden Söhne, deren Väter sich jeweils aus ihrem Leben verabschiedet hatten, zog sie in Spanish Harlem mit Sozialhilfe groß.
Doch sie malte, obsessiv und unbeirrt. Familie, Freunde, Menschen, die sie traf. In den 60ern freundete sich die Künstlerin mit Andy Warhol an und porträtierte zahlreiche Angehörige der New Yorker Subkultur. Sie malte die Künstler in Greenwich Village und die Leute aus ihrer multikulturellen Nachbarschaft. Und wenn zwei Jungs bei ihr klingelten und sagen: "Hey, wir haben gehört, Sie malen hispanic children", dann porträtierte sie sie auch. "Mein Interesse an der Menschheit ist maßlos“, sagte sie. "Selbst wenn ich nicht arbeite, analysiere ich die Leute."
Psychologisches Talent
Es ging ihr dabei nicht um Repräsentation, sie malte die Menschen nicht als Beispiel für irgendwas, als Essenz einer wie auch immer definierten Humanität. Stattdessen ging sie vom Individuum aus, von seiner Persönlichkeit und Psychologie. "Ein Porträt offenbart nicht nur das, was man sieht, sondern auch das, was man nicht sieht", erklärte sie. Und sosehr die Einfühlung in die menschliche Persönlichkeit bei vielen ihrer Generationsgenossen als überholt galt: Sie bestand darauf, denn nur so konnte sie dem einzelnen Menschen gerecht werden. "Wenn ich ein Psychiater gewesen wäre, wäre ich reich geworden", scherzte sie selbst mal über ihr psychologisches Talent.
Wie gut sie wirklich war, hat die Kunstwelt erst sehr spät verstanden. 1974, sie war 74 Jahre alt, fand im New Yorker Whitney Museum ihre erste Retrospektive statt. Zehn Jahre später starb Neel. Heute gilt sie vielen schlicht als die beste Porträtmalerin des 20. Jahrhunderts – eine Künstlerin, die es schaffte, die Menschen auf ihren Bildern als eigensinnige und würdevolle Subjekte darzustellen.
"Wenn ich etwas erreicht habe, dann dieses: Ich habe immer mit dem Wandel Schritt gehalten. Dem Wandel der Gefühle, der Lebensstile", sagte Alice Neel. Sie malte Bilder von Leuten. Und wurde zur Chronistin ihrer Zeit.