Künstlerin Alex Müller in Berlin

Wunderkammer mit Badewanne

Im Leben steht nur der Anfang fest, der Rest besteht aus der Bewältigung von Unberechenbarem. Aus dieser Annahme hat die Künstlerin Alex Müller in Berlin eine autobiografisch gefärbte Ausstellung gemacht, die für Wertschätzung des Wundersamen plädiert

Die physikalische Chaostheorie, umgangssprachlich "Schmetterlingseffekt" genannt, bezeichnet Vorgänge, bei denen minimale Einflüsse über lange Zeit hin unberechenbare Kräfte entwickeln. Sicher ist nur der Start des Experiments – ein Phänomen, das sich leicht auf unser Leben übertragen lässt. Zu groß ist der Möglichkeitsraum mit Variablen wie Umwelt, Gesundheit, Beziehungen und Weltgeschehen, als dass man sichere Vorhersagen treffen könnte. 

Mit dem Titel ihrer aktuellen Soloausstellung "Der Anfang steht schon fest" in der Berliner Galerie Haverkampf Leistenschneider scheint die Künstlerin Alex Müller Bezug auf jene Gewissheit zunehmen, mit der nur der Ausgangspunkt eines komplexen Systems wie dem Leben zu beschreiben ist. Die Betonung dessen, was bekannt ist, hat etwas Beruhigendes, Naives. Sie klingt wie ein Appell, die Dinge Schritt für Schritt anzugehen, denn die Zukunft ist unberechenbar und bringt – im Guten wie im Schlechten – ständig Ereignisse hervor, die die Vorstellungskraft übersteigen.

Nun liegt es in der Natur des Menschen, dem Unerklärlichen – zumindest retrospektiv – auf den Grund zu gehen. Schon im 14. Jahrhundert sammelten europäische Fürsten und wohlhabende Privatpersonen außergewöhnliche Artefakte der Natur und des Handwerks, oftmals mit kolonialem Hintergrund, in sogenannten Kuriositätenkabinetten - und legten dabei den Grundstein für heutige Museen.

Die Galerie als Wohnung

Obwohl uns durch fortschreitende Wissenschaft und die zunehmende Verbreitung von Informationsmedien viele Dinge nicht mehr unbedingt außergewöhnlich erscheinen, hat die Welt immer noch genug Erstaunliches zu bieten - ein Indiz dafür ist Alex Müllers Ausstellung, die an ein zeitgenössisches Wunderkabinett erinnerte.

Die Künstlerin zeigt einen Parcours aus Malerei, Skulptur und ortsspezifische Interventionen der vergangenen 15 Jahre und greift dabei auch die Geschichte der Galerieräume, einer Charlottenburger Wohnung aus der Gründerzeit, auf. Dem Publikum begegnen vertraute Objekte – eine Badewanne, ein Spiegel, ein Esstisch, Besteck und Sitzmöglichkeiten. Durch Müllers Hand sind sie jedoch zu surrealen Kreationen transformiert und, obwohl in gewohntem Kontext anzutreffen, ihres praktischen Nutzens beraubt. So sind Badewannen für gewöhnlich nicht mit Erbsen ausgekleidet, Tischdecken keine dreidimensionalen Textilreliefs, und Bänke bewegen sich nicht wie ein mechanischer Sysyphos immer wieder vor und zurück.

Wie in einem Traum, in dem man die Skurrilität der Situation nicht erkennt, wirken auch Müllers Objekte sehr natürlich in ihrer Umgebung, als hätte es sie schon immer so gegeben. Das Träumerische führt sich in ihren Gemälden fort, in denen Personen mit den abstrakten Hintergründen verschmelzen. Die wortwörtlich vielschichtigen Leinwände lassen verschiedene Ebenen erkennen, Farbverläufe und grafische Elemente sind mit Körpern verwoben, und Textilreliefs geben den Formen Volumen und eine besondere Haptik.

Sie strahlen eine Transzendenz aus, als seien sie mehr seelische Abbilder und weniger Repräsentationen physischer Wesen. Komplementiert wird die Szenerie durch Interventionen an den Wänden der Galerieräume. Mit Leim und Mohnsamen hat die Künstlerin architektonische Elemente wie Fenster und Säulen skizziert und scheint damit eine Verbindung von Traum und physischer Welt herzustellen. Was “Realität“ ist, verschwimmt. Gleichzeitig bietet die architektonische Komponente Halt und verortet die Arbeiten in der physischen Welt.

Melancholie und Leichtigkeit

Müllers “Einrichtung“ scheint wie eine Erinnerung, geschmückt mit Gefühlen und verschleiert durch die fortschreitende Zeit. Ihre sehr persönliche, autobiografische Praxis zeugt von den vielen Herausforderungen, die das Leben bereithält. Motive von Krankheit, des Alterns und der Bürden der Vergangenheit verleihen besonders ihrer Malerei eine melancholische Stimmung.

Während das Eintreten einschneidender Ereignisse außerhalb des menschlichen Einflusses liegt, ist die Auseinandersetzung und Bewältigung jedoch ein aktiver, eigenverantwortlicher Prozess. Auch dieser findet sich in Müllers Kunst. Das wiederkehrende Motiv des Besens zum Beispiel oder eine Sammlung von benutzten Seifenresten der Künstlerin verweisen auf Selbstpflege und Reinigung.

Neben der Melancholie findet sich aber auch eine Leichtigkeit in ihren Arbeiten. Literarische Bezüge, Komisches und Alltägliches fungieren als Gegenpol zu den schweren Themen des Lebens und machen die Ausstellung auch zu einer Erinnerung an das, was wundersam und wunderbar ist. Wie schon in den Kuriositätenkabinetten des 14. Jahrhunderts findet sich in Müllers Arbeit eine Faszination und Wertschätzung für das Unerklärliche. Sie ist ein Plädoyer für Positivität, Neugier und Empathie. Keine zwei Menschen werden in ihrem Leben dieselben Erfahrungen machen und trotzdem – oder gerade deswegen – ist der Austausch darüber so wichtig.