Soweit alles wie gehabt: Ai Weiwei hat ein Interview gegeben, in dem er sich kritisch zu Deutschland äußert. In diesmal besonders überspitzter Manier bezeichnet er in der "Berliner Zeitung" die deutsche Hauptstadt als die langweiligste, hässlichste Stadt der Welt, sich selbst als von Deutschland unter Druck gesetzt und deutet den Umgang der Kulturszene mit dem Belgier Chris Dercon als Zeichen für die Ausländerfeindlichkeit der Linken. Mittlerweile klingen solche Schimpftiraden vertraut.
Für Furore sorgt aktuell aber, dass Ai erstmals gegen die Berliner Universität der Künste (UdK) wettert, an der er von 2015 bis 2018 eine Gastprofessur innehatte: "Es ist unmöglich, deutsche Studenten zu unterrichten. Sie sind faul, sie machen ihre Hausaufgaben nicht." Zudem bezichtigt der chinesische Künstler das Uni-System als korrupt: "Ich sollte diese Studenten ihren Abschluss mit Auszeichnung machen lassen. Ich fragte, wie das sein könne. Sie sagten, sie würden das immer so machen. Alle Professoren haben ihre Hand dafür gehoben."
Es ist eine Sache, gegen Institutionen wie die Berlinale, gegen Großkonzerne wie Volkswagen oder gegen eine liberale Kulturelite auszuteilen. Aber was musste schieflaufen, damit Ai sich gegen junge Künstlerinnen und Künstler wendet, die er in seine Klasse aufnahm?
Vor allem abwesend
Spricht man mit ehemaligen Ai-Studierenden, kristallisiert sich Abwesenheit als markantestes Merkmal des Professors heraus. Marieke Helmut, die Ais Klasse in seinem letzten Lehrjahr besuchte, berichtet, dass Ai selbst bei ihrem Bewerbungsgespräch fehlte. Stattdessen unterhielt sich die Kunststudentin mit Ais Assistenten, der während des Semesters auch für wöchentliche Gespräche zur Verfügung stand. "Einzeltermine konnte man sich wünschen, aber nur aus wichtigen Gründen", berichtet Clément, der Ais Klasse ebenfalls in dessen letztem Lehrjahr besuchte. Ai habe stets sehr beschäftigt gewirkt und mehrfach geäußert, dass er keine Lust mehr auf seine Lehrposition habe.
Für die meisten Studierenden fand der einzige direkte Kontakt somit bei den monatlichen Klassentreffen statt, bei denen Ai vorab eingereichte Fragen beantwortete. "Ein bisschen war es, als würde man ein Orakel befragen. Wir durften ihn sogar konfrontieren. Die Studenten haben es immer genossen", so Clément. Marieke Helmut hingegen zeichnet ein weniger positives Bild der Treffen: "Er kannte uns und unsere Arbeiten nicht, deshalb redeten wir nach meinem Gefühl aneinander vorbei. Er hat uns falsch verstanden und wir ihn. Es haben sich allgemein kein richtiger Austausch und keine tiefergehenden Gespräche entwickelt."
Den Eindruck, dass Ai sowohl seine Studierenden als auch deren Arbeiten kaum kannte, teilen Helmut und Clément mit der ehemaligen Studentin Maryana Dzhokhadze, die Ais Haltung in einem Text für die "Berliner Zeitung" als egozentrisch bezeichnet. Seltsam, dass Ai sich trotz seines minimalen Kontakts mit den Studierenden befähigt fühlt, ein Urteil über die Arbeitshaltung seiner Studierenden zu fällen. Clément sieht die Aussage gelassen. "Ich musste schmunzeln, als ich das Interview las. Ai Weiwei mag und beherrscht die Provokation", erklärt er gegenüber Monopol. Den Ruf, faul zu sein, würde Studierenden auch ohne Ais Aussage anhaften.
Diskursferne Polemik
Nikolas Brummer, Student der Klasse Jospehine Pryde und Mitglied des Fachschaftsrats Bildende Kunst, betrachtet Ais Polemik weniger positiv: "Das ist überhaupt nicht diskursbezogen und zeichnet ein Bild der UdK, das eine Auseinandersetzung mit den eigentlichen strukturellen Problemen verhindert." Jene Probleme sieht Brummer primär in den vom Berliner Senat unterzeichneten Hochschulverträgen begründet. Die sorgen dafür, dass die Universität, die ohnehin bereits mit Platz- und Personalmangel zu kämpfen hat, überproportional viele neue Lehramt-Studierende aufnehmen muss. Eine kritische Auseinandersetzung mit der zunehmenden Enge an der Universität und der Pädagogisierung der Lehre seien wesentlich dringender als die Frage danach, wie viele Studierende bei ihrem Abschluss den Meisterschüler-Titel erhalten.
Ais Kritik an den Abschlussprüfungen der UdK findet auch Marieke Helmut zu kurz gedacht. Gute Noten für alle seien manchmal eben auch schlichtweg eine Methode, um reduktionistische Bewertungssysteme zu unterwandern. Kritisieren könne und müsse man eher die Zusammensetzung der Prüfungskommission. Bei ihrer Abschlussprüfung bestand diese beispielsweise ausschließlich aus Männern, die allesamt auf das Medium Malerei spezialisiert waren.
Ohnehin zeigt sich Marieke Helmut verwundert über Ais Rede von Hausaufgaben und leichtfertig verteilten Auszeichnungen, betonte der Künstler doch oftmals, das Modell Kunstuniversität mit ihren Bewertungsmechanismen abzulehnen. "Andererseits passt die Hausaufgaben-Metapher gut zu seinem paternalistischen Lehransatz."
Einverleibung der Leere
Es lief offenbar einiges schief in der Klasse Ai. Helmut erzählt eine Geschichte, die das prägnant auf den Punkt bringt. Zum Sommerrundgang 2018 wollten die Ai-Studierenden ihr Atelier leerstehen lassen. Ein richtiges Klassengefühl sei aus verschiedenen Gründen nie aufgekommen. Ai und sein Assistent betonten immer wieder, dass man als Künstler Einzelkämpfer sein müsse und dass es keine Gruppe gebe. Der Versuch, eine gemeinsame Arbeit beim Rundgang zu zeigen, endete dementsprechend in Zerwürfnissen. Für manche ein Symbol fehlgeschlagener Kommunikation sollte der leere Raum für andere auch ein Zeichen gegen den Platzmangel an der Universität sein.
Aber Ai war die Leere dann doch zu viel: Über die Köpfe vieler Studierender hinweg entschied er, ein Buch mit Transkripten der Klassengespräche zu zeigen: "Conversations Between Ai Weiwei and Students" verleibte sich die Leere des Raumes ein. Eine Beteiligung der Studierenden an der Publikation lehnte Ai ab, zum Protest weigerten sich Helmut und einige Kommilitoninnen und Kommilitonen, die Arbeit während des Rundgangs zu beaufsichtigen.
Es ist gut möglich, dass in Ais Lehrzeit schlichtweg grundunterschiedliche Erwartungen und Ansätze aufeinandertrafen, dass der Künstler Verweigerungsgesten als Faulheitssymptome fehldeutete und dass es ihm nicht ausreichend gelang, sich mit den Strukturen der UdK und seinem Lehrauftrag zu arrangieren.
Vielleicht muss man ihm das nicht einmal zum Vorwurf machen, womöglich hat er einfach erkannt, dass ihm die Rolle des Universitätsprofessors eben doch nicht liegt. Doch was Helmut im Bezug auf Ais Selfie mit Alice Weidel äußert, gilt auch hinsichtlich seiner Aussagen in der "Berliner Zeitung": "Er hat diesen großen Namen und erreicht damit unfassbar viele Menschen, da muss man auch Verantwortung dafür übernehmen, was man in die Welt schickt." Vor allem dann, wenn man junge Studierende angreift, die durch die eigenen Lehrmethoden eben jenen autoritären Strukturen ausgesetzt werden, die man andernorts heftig kritisiert.