Die Bewohner des Münchner Nordens haben mit großen Gesten aus Glas und Stahl keine guten Erfahrungen gemacht. Über den Bau der zwei monumentalen "Highlight Towers" haben sich 2004 manche Bürger so stark geärgert, dass sie eine bis heute gültige Obergrenze von 100 Metern für alle neuen Hochhäuser in München durchgesetzt haben; eine Grenze, deren Sinnhaftigkeit mittlerweile von den Grünen im Stadtrat angezweifelt wird. Das Viertel um die Highlight Towers herum gilt bis heute als wenig lebenswert. Obwohl es den schönen Namen "Parkstadt Schwabing" trägt, ist der Parkstreifen dort verödet, und die Bewohner dieser Stadt-in-der-Stadt heißen hauptsächlich Amazon, Microsoft und IBM.
Das will die Alexander-Tutsek-Stiftung ändern, indem sie "ein Stück Kultur dorthin trägt", wie die Kuratorin Petra Giloy-Hirtz während unserer Taxifahrt in den entlegenen Münchner Randbezirk sagt. Die private Stiftung, die in den letzten Jahren viele Ausstellungen in der Pinakothek der Moderne oder im Haus der Kunst unterstützte und bisher eine kleine Villa bespielte, hat sich dort einen großen zweiten Ausstellungsraum namens "BlackBox" geschaffen. Der Raum befindet sich in einem schwarz-glitzernden Kubus des Gewerbegebiets und wirkt als White Cube auf den ersten Blick zwar ähnlich technisch und unterkühlt wie das restliche Viertel, solle hier aber gerade damit ein neues Publikum für die Kunst gewinnen.
Die erste Ausstellung "Wide Open. Ins Offene", deren hundert Werke zwischen dem alten und neuen Haus der Stiftung aufgeteilt sind, zeigt passenderweise dann auch Skulpturen aus Glas. Meist in Kombination mit Bronze oder Stahl, doch das Glas ist die Hauptsache. Das zentrale Ausstellungsstück in der BlackBox – die Skulptur "Fragile Garden" (2019) von Carlos Garaicoa – beeindruckt einer ersten Erhebung nach sogar die Tech-Bros von Amazon nachhaltig, so hübsch und komplex ist diese Skulptur. Glaskunst ist neben chinesischer Fotografie ein besonderes Faible der Tutseks, und so trifft es sich gut, dass Garaicoas Arbeit wie die ganze Ausstellung als eine Hommage auf das Handwerk der Glasbläserei verstanden werden kann.
Glaskunst in ihrer Vielfalt
Auf einem langen gläsernen Verhandlungstisch breitete Garaicoa seine Metallstangen aus, die vielleicht die magischen Lanzen von Fantasiekriegern sein könnten. An jedem Ende steckt entweder ein Klunker oder eine Art Koralle, alles aus Glas, in bunten Farben und in unterschiedlicher Distanz zueinander über dem Abgrund schwebend. Die Skulptur ist statisch anspruchsvoll wie bei Alicja Kwade und mathematisch verspielt wie bei Mario Merz.
Neben erfahrenen Glaskünstlerinnen wie Kiki Smith, die schon seit 1985 mit Glas gearbeitet hat (ihr Holzsarg mit den gläsernen Pusteblumen wird in einem eigenen kapellenähnlichen Raum gewürdigt) stehen in der Ausstellung Positionen wie Jimmie Durham, der sich nur ein einziges Mal für eine abstrakte Serie an das Material herangetraut hat: Glas sei eigentlich "zu hübsch", um Kunst zu sein, hatte Durham einmal als Problem benannt.
Die Fondazione Berengo in Venedig hat es sich zur Aufgabe gemacht, berühmten zeitgenössischen Künstlerinnen und Künstlern das Material Glas nahezubringen, sie an den Ofen zu locken und so "die alte Technik in eine neue Sprache zu überführen", wie es Ai Weiwei formuliert hat. Im 14. Jahrhundert war es den Glasbläsern auf der Insel Murano bei Venedig noch verboten gewesen, ihre Berufsgeheimnisse auszuplaudern, weil sie damit ihr Monopol geschwächt hätten. Heute florieren die Glasfabriken auf Murano hingegen nur dann, wenn sie sich den Touristen und den Künstlern öffnen. In der Sammlung der Tutsek-Stiftung befinden sich ein paar eindrückliche Ergebnisse dieser Vermittlungsarbeit von Adriano Berengo.
Ein Blick auf die zeitgenössische chinesische Fotografie
Eine Künstlerin, die offenbar für die ganze technische Finesse des Handwerks zu begeistern war, ist Monica Bonvicini. Ihre schlaff aussehenden Glas-Penisse, die für die Skulptur "Fleurs du Mal" (2019) in Reih und Glied aufgehängt, in ähnlichen Arbeiten auch mal aufgespießt sind, haben unterschiedliche Farbnuancen, sind verschieden transparent und reflektieren das Abendlicht jeder auf seine eigene Weise. Manche Besucher erwarten sich vor allem Sex und SM von einer Bonvicini-Arbeit und entdecken erst danach die materiellen Feinheiten. Bei anderen Besuchern kippt die Skulptur genau in die entgegengesetzte Richtung um; das Rosa verdirbt vor ihren Augen. Für "In My Hand" (2019) hat Bonvicini ihre eigene Hände in Glas gegossen. Sie halten einen gespannten Gürtel zum Schlag bereit, der sogar als Glas sehr dehnbar aussieht und fast in den Ohren schnalzt.
Dieser Gürtel schlägt die Brücke zur anderen Hälfte der Ausstellung: der zeitgenössischen chinesischen Fotografie, die genauso oft von Feminismus und Sex erzählt, und für welche die Fotografinnen ebenfalls ihre eigenen Körper hergeben. Liao Pixy zeigt sich selbst und ihren fünf Jahre jüngeren Partner Moro in der Serie "Experimental Relationship" (2007-heute) in vertauschten Rollen. Sie stiert geradeaus in die Kamera und macht ihre Schultern breit, an die er keusch seinen Kopf anlehnt. Auf einem anderen Foto liegt er nackt und zerbrechlich in ihrem festen Griff, seine Unterschenkel über die Kante ihres Sessels baumelnd. Dominant wirkt dabei gerade ihre ausgestellte Vorsicht im Umgang mit seinem kleinen Päckchen von Körper.
Wie divers und rebellisch eine neue Generation chinesischer Frauen ist, die sich weder von der prüden chinesischen Gesellschaft, noch vom exotisierenden westlichen Blick etwas vorschreiben lassen will, bringt Luo Yang in ihren Fotoserien "Youth" und "Girls" zum Ausdruck. Und auch beim Fotografen Weng Fen spielen Mädchen eine zentrale Rolle. Er hat sie über die Jahre hinweg immer wieder in Schuluniformen vor die Skylines verschiedener chinesischer Städte gesetzt und fotografiert (die Serien "Sitting on the Wall" und "Bird’s Eye View"), um der Transformation des Stadtbilds und den bedrohlichen Wolkenkratzern ein poetisch reflektierendes Subjekt entgegenzusetzen.