Überaus listig, wie die alten Griechen die olympischen Rollen verteilt haben. Feinst geregelte Zuständigkeiten. Selbst die Erinnerung lag in himmlischer Hand: der von Mnemosyne. Dem Kunsthistoriker Aby Warburg ist sie zur Schicksalsgöttin geworden. Ihr hat er seinen berühmten Bilderatlas gewidmet, der wie bei einem gelehrten Abendgespräch durch Zeiten und Räume streift, die Einfälle miteinander verquickt und in der Bildgeschichte über kulturelle Grenzen und Jahrtausende hinweg lauter Verwandtschaften, Spiegelbilder, wiederkehrende Muster entdeckt.
Im Herbst 1929 war die letzte Version erstellt. 63 schwarz grundierte Tafeln voller Fotografien und Abbildungen aus Büchern und Magazinen. Antike, Renaissance, Gegenwart, Stammeskunst, Volkskunst, Werbung. Nicht gerade mit gestalterischer Raffinesse montiert, aber so angeordnet, dass die Szenen und Ausschnitte wie bei einer Mindmap aneinanderhängen. Leonardos Vitruv-Mann neben einer bäuchlings geöffneten ″Zodiak"-Figur aus dem 14. Jahrhundert, an der nach Art der Moritat der Einfluss der Sternbilder auf Leib und Seele gezeigt wird. Auf einer anderen Schauwand illustrieren Piero della Francesca und weniger bekannte Maler der Frührenaissance das Thema "Monumentalisierung und Vereinzelung". Während in einem benachbarten Kapitel den sterbenden Laokoon Szenen aus dem Isis-Kult umgeben, eine Gruppe tanzender Mänaden sich hinzugesellt und die Körperschwünge zu einer kaum unterscheidbaren Schmerz-und Lust-Gestik verschmelzen.
"Mnemosyne" ist seit Warburgs Tod 1929 kunstwissenschaftlicher Forschungsgegenstand und in Rekonstruktionen immer wieder dokumentiert und diskutiert worden. Erst jetzt ist es dem Publizisten Roberto Ohrt und dem Künstler Axel Heil gelungen, aus dem Riesenbestand an rund 400.000 Fotografien, die das Warburg Institute in London verwahrt, die originalen Abbildungen auszusuchen und sie in ihrer ursprünglichen Anordnung zu präsentieren – in einer gewichtigen Edition (bei Hatje Cantz) und einer Ausstellung im Berliner Haus der Kulturen der Welt.
Viel erklärt wird ja nicht. Und es gehört mitunter schon eine Portion intellektueller Mut dazu, über die schwankenden visuellen Brücken zu spazieren. Was aus der Paarung der christlichen Auferstehung mit dem mythischen Absturz des übermütigen Sonnenwagenlenkers Phaeton zu lernen wäre, bleibt doch etwas geheimnisvoll. Es sei denn, aus "Aufstieg und Fall" sollte noch eine kunstphilosophische Moral gewonnen werden.
Die Bilder nicht einer Chronologie unterordnen
Aber genau darum war es dem "Bilderatlas" nie zu tun. Ganz ausdrücklich wollte das immense Puzzle nicht zuletzt einem Laienpublikum vorführen, wie die Ausdrucksmittel sich aufeinander beziehen, wie sie auseinander hervorgehen und sich aneinanderlehnen, wie die Künste ihre Stoffe, Sujets und Motive in einer horizontalen Praxis weitergeben, die den klassisch vertikalen Erzählweisen geradewegs entgegenläuft. Tatsächlich ist ja Kunstgeschichte nie etwas anderes als chronologische Abfolge gewesen. Selbst in der Stilkunde, wie sie Heinrich Wölfflin zu Beginn des letzten Jahrhunderts ausgearbeitet hat, herrschte noch das entwicklungsdynamische Narrativ.
Erst vor diesem Hintergrund wird Warburgs Opposition in ihrer ganzen Radikalität verständlich. Als bekennender Bildermensch war er in der ikonografischen Zunft die rätselhafte Ausnahme. Seine "ikonologische" Methode, den Dingen beim Fließen und Ineinanderfließen und Verfließen zuzusehen, erschien wie ein Verstoß gegen die Regel. Sicherte sich die Disziplin ihre Wissenschaftlichkeit doch vor allem durch geschliffene Begriffe, und Bilder waren nur der Anlass, die Kunst in ein System erzählerischer Folgerichtigkeit zu zwängen.
Von heute aus gesehen, hat Aby Warburg zentrale Bestandteile unserer Diversitätsdebatten vorweggenommen. Nur dass das Poetische seines Verfahrens in deutlichem Kontrast steht zu den Gleichstellungsanstrengungen, mit denen Museen in der Zwischenzeit ihre männlich, weiß, europäisch, amerikanisch sortierten Sammlungen des 20. Jahrhunderts aufmischen. Um Gerechtigkeit ist es Warburg nicht gegangen. Sein "Bilderatlas", den er gemeinsam mit Gertrud Bing und Fritz Saxl zusammengetragen hat, war ein Großversuch mit einem anderen hermeneutischen Prinzip, der Test auf ein inklusives Verfahren, das nichts ausschließt, das das Alte und das Neue, das Ferne und das Nahe unter Mnemosynes freundlicher Anleitung in eine Erinnerungsgemeinschaft bringt.