Der Soziologe Niklas Luhmann wird noch heute von Skeptikern für einen faden Bürokraten und Papiertiger gehalten. Dabei erkannte der Bielefelder Systemtheoretiker, dass erst Unordnung die Evolution sozialer Systeme voranbringt, Irritation die Gesellschaft formt. Das gilt auch für ästhetische Erlebnisse: "Das Erstaunen steht ja überhaupt am Anfang der Kunst." Eine Ausstellung über das überraschende "Glück des Findens", dem keine gezielte Suche voranging, bringt nun Luhmann mit den deutschen Künstlern Ulrich Rückriem und Jörg Sasse in der Kunsthalle Bielefeld zusammen – auch das eine zunächst verblüffende Kombination.
"Serendipity", der Titel der Schau, lässt an die legendäre Ausstellung "Cybernetic Serendipity" denken, die 1968 vom Londoner Institute of Contemporary Arts (ICA) gezeigt wurde. Was gut zu Luhmann passen würde, der das Material für sein Theoriegebäude aus dem Wissenschaftszweig der Kybernetik
nahm. Doch die eher aphoristisch angelegte Ausstellung in Ostwestfalen lässt Computer und Maschinen, die damals im Zentrum standen, völlig außer Acht. Auch über unser alltägliches Glück des Findens beim Internetsurfen schweigt die neue "Serendipity"-Schau.
Stattdessen ist hier zum ersten Mal der legendäre Zettelkasten Luhmanns ausgestellt: eine Art haptisches Modell für das World Wide Web. Das überraschend kleine Möbel, das hier auratisch auf einem Sockel präsentiert wird, enthält 90.000 Kärtchen, die durch ausgeklügelte Querverweise miteinander verbunden sind und Finderglück zulassen. Fast 50 Jahre hat Luhmann an dem Archiv gearbeitet, das ihm beim Schreiben half. Einige Zettel kann man in Vitrinen bestaunen, Zitate des Feinironikers an den Wänden, seine Werke im Regal. Ein echter Huldigungsraum.
Jörg Sasse hat mit seinen zwei in der Kunsthalle installierten "Speichern" ebenfalls Archive geschaffen, die zum Spielen einladen: Besucher sind aufgefordert, Schlagwörter zu wählen ("Schnee", "Schwarzweiß", "Straßen"), nach denen die Aufsicht neue Bilder aus den Handapparaten zieht und in immer neuen Anordnungen an die Wand hängt. Auch andere Werkgruppen des 1962 geborenen Künstlers, den man nicht einfach "Fotograf" nennen kann, zeugen vom Flanieren durch vorgefundene und eigens aufgenommene fotografische Bildwelten, die er immer wieder neu arrangiert und in Verbindung miteinander stellt.
Der 76-jährige Ulrich Rückriem wiederum folgt mit seinen Zeichnungen und Skulpturen erfundenen Ordnungsstrukturen, teilt Flächen, verbindet Punkte zu Gebilden, benutzt Raster – und lässt sich so zu neuen Formen führen. Besonders in den zahlreichen zeichnerischen Figurationen scheint die Faszination an immer höherer Komplexität durch, die das Festhalten an einfachen Regeln ermöglicht. Das Stolpern in überraschende Zusammenhänge braucht eben erst einmal selbst auferlegte Zwänge, die Abweichung braucht Ordnung. Weshalb angebliche Pedanten und Bürokraten auch die größten Meister dieser Kunst sind. Niklas Luhmann hätte sicher seine Freude an dieser Ausstellung gehabt.