Künstlerin Renate Reifert

"Was die Natur uns zeigt, stimmt immer"

Gegen alle Widerstände wurde Renate Reifert Malerin und entwickelte eine eigenständige Farbenlehre. Ihr "Coloarium" könnte für Kunst und Farbindustrie zukunftsweisend werden. Ein Gespräch zum 80. Geburtstag

Der Spätherbst taucht Wiesbaden in goldenes Licht, als ich von Renate Reiferts Tochter am Bahnhof abgeholt werde. Auf dem Rücksitz duftet es verführerisch nach frischem Apfelkuchen, im Kofferraum stapeln sich gerahmte Bilder, die extra für meinen Besuch in der Wohnung abgehängt wurden und sich nun mit uns auf dem Weg ins Atelier befinden. Dort angekommen begrüßt eine goldene Brezel die Eintretenden und erinnert als einziges Relikt an die Bäckerei, die sich einst in den Räumen im Erdgeschoss befand, in dem Renate Reifert nun ihre farbtheoretischen Erkenntnisse in facettenreichen Werkreihen zum Ausdruck bringt. Die Künstlerin erforscht neben den materiellen Eigenschaften der Farbe insbesondere ihre optische wie auch psychologische Wirkung. Ihre Überlegungen kreisen dabei stetig um die eine große Frage: Wie lebt der Mensch in der Welt und wie wirkt diese über ihre Farbigkeit auf ihn zurück? 

Die farbspezifischen Beobachtungen münden, einem Rückkopplungseffekt gleich, in einem "Farbtun". Mit diesem Begriff bezeichnet Renate Reifert, die Mitglied im Deutschen Farbenzentrum ist und dort bereits vielfach referierte, die Gestaltung von Innenräumen in spezifischen tonalen Farbharmonien, die ihrem "Coloarium" entspringen und eine empirisch nachweisbare positive Wirkung haben. Als freischaffende Künstlerin hat Renate Reifert seither zahlreiche Innenraum-Gestaltungen durchgeführt. Das Potential ihres "Coloarium" allerdings ist bislang noch nicht ansatzweise ausgeschöpft. Die Interieur-Branche wie auch die Farbindustrie könnten mit Reiferts Farbtheorie entscheidende neue Impulse erhalten, sofern sie sich auf dieses aus Beobachtungen der Natur abgeleitete Kompendium einlassen. Höchste Zeit also für ein Gespräch zum 80. Geburtstag über die Schwierigkeiten als junge Frau in den 1960er-Jahren und als Mutter in den 1980er-Jahren Kunst zu studieren, sowie über alternative Farbsysteme.

Frau Reifert, Farbe und ihre Wahrnehmung sind die Koordinaten, zwischen denen sich das Universum Ihres vielfältigen künstlerischen Schaffens erstreckt. Beim Blick auf Ihre Arbeiten hat man unmittelbar das Gefühl, dass Sie sich sehr gut mit Farbtheorien und der Farbphilosophie auskennen. Inwiefern beeinflusst dieses Wissen ihre künstlerische Praxis?

Beeinflusst bin ich vor allem von meinen eigenen Beobachtungen. Nehmen wir exemplarisch die Serie der "Prismatischen Bilder". Sie sind so aufgebaut, dass ich transparente Farbschichten übereinander lege, die sich dann im Auge mischen. Entsprechend sind diese inneren Grüntöne kein Grün, sondern sie entstehen über das Gelb im Grund und das Blaue und natürlich auch, wenn es gebrochen ist, über das Rot. In den "Prismatischen Bildern" bleibt immer ein kleines Fleckchen frei. Das ist die bloße Leinwand. Es ist die Frage, ob diese freie Stelle der tragende Grund oder das Nichts ist. 

Die weißen dreieckigen Formen als Grundlage Ihrer Komposition ergeben jedoch auch interessante Bezüge zu Isaac Newtons 1672 veröffentlichter Farbtheorie. Mit Prismen führte er Experimente durch und belegte so, dass die Spektralfarben Teil des weißen Lichts sind. 

Stimmt, diese Parallele lässt sich ziehen. Woher die prismatische Zerlegung in meinen Arbeiten letztlich kommt, kann ich Ihnen jedoch nicht sagen. Mein Interesse an der Farbe war immer schon enorm groß. Als ich hier in Wiesbaden an der Freien Kunstschule 1985 mein Zweitstudium begann, hatte der Lehrer ebenfalls eine besondere Beziehung zur Farbe. Ein Pädagoge war er allerdings nicht, er hat uns bis zu Tränen getriezt. Die Kompositionsform der "Prismatischen Bilder" variiert, hier in den Aquarellen sehen Sie Versuche mit mehreren freien Stellen. 

Auffallend an den Bildern ist die farbharmonische Sortierung. Entstehen die Farbspektren innerhalb der Bilder intuitiv oder verfolgen Sie jeweils ein Konzept?

Im Allgemeinen lege ich die Idee ganz grob in einem Aquarell nieder. Um welches Farbspektrum es sich jedoch am Ende handelt, ob es ein Grünspektrum wird oder mehr Blau hineinkommt, das ist ein intuitiver Prozess. Mir fällt auf, dass ich im November oft mit gelben Bildern zu Gange war. Ich nehme an, das ist das fehlende Licht von außen. Und wenn ich dann fertig bin am Ende des Tages und alle jammern über das Wetter und über das Grau und über sonst was – ich habe es gar nicht gemerkt.

Würden Sie denn sagen, dass Ihr Zugang zur Farbe ein emotionaler ist oder dass sie die Farbwirkung systematisch untersuchen?

Das untersuche ich natürlich auch in der Theorie. Ich erlebe sie ja, die so belebende Wirkung der Farbe. Das ist auch der Grund, weshalb ich Räume gestalte: Weil ich das am eigenen Leibe erlebe und überzeugt bin, dass die Farbe etwas mit uns macht, und zwar im positiven Sinne, wenn ich sie gut gebrauche. Es gibt natürlich auch Farben, da kann man Zahnschmerzen bekommen und läuft schnell weg. Was meine Räume betrifft, habe ich gute Rückmeldungen. Es passiert immer wieder, dass mich wildfremde Leute anrufen und mir sagen, dass es geholfen hat.

Sie arbeiten vor allem in Krankenhäusern.

Ich nenne das angstbesetzte Räume, da man mit einem unguten Gefühl reingeht, weil man nicht weiß, was kommt. Mit einem Bauingenieur hatte ich diesbezüglich ein besonderes Erlebnis. Ich habe einen OP-Warteraum rundherum bemalt. Das sind sehr kleine Räume, du liegst dann da und guckst nur ins Weiß und bist voller Ungewissheit. Dieser Ingenieur rief mich nun an, ich glaube fünf Jahre später, und sagte: "Frau Reifert, ich habe es Ihnen damals nicht geglaubt. Ich hatte mich immer in den Raum gestellt und habe sagt: Ich habe Angst, ich habe Angst, und es ist nichts passiert, dann habe ich mich reingelegt und habe gesagt: Ich habe Angst, und es ist auch nichts passiert. Und dann war ich wirklich in der Situation. Also kurz vor der OP, Frau Reifert, es hat geholfen", hat er gemeint. Ich fand das so schön formuliert. 

Kann man die Wirkung auch beweisen?

Wissenschaftlich beweisen kann ich es nicht, und als Malerin habe ich auch nicht die Möglichkeit dazu. Aber ich bin ja Mitglied im Deutschen Farbenzentrum, wo ich mehrfach über meine Raumgestaltungen und deren Wirkung gesprochen habe. Daraufhin hat einer der Professoren, auch ein Mitglied, eine Versuchsreihe gemacht und ein Buch über diese Form der Farbwirkung geschrieben. Er kam, basierend auf seinen wissenschaftlichen Untersuchungen, zum selben Ergebnis.

Sie haben eine eigene Farbtheorie erstellt, die auf Ihren Beobachtungen beruht.

Seit fast 30 Jahren bin ich dabei, mein "Coloarium" zu erstellen. Das ist eine eigene Wortschöpfung, angelehnt an Herbarium. Das "Coloarium" umfasst mittlerweile um die 500, vielleicht auch 700 Blätter. Ich trenne Farbe und Form, indem ich eine Tuschezeichnung mache. Das hier sind zum Beispiel Narzissen unter Olivenbäumen. Das hier ist eine Taubnessel. Und dann die Stammfarben einer Platane und so weiter und so weiter. Ich nehme jeweils die Farbe der Blüte, die Farbe ihres Blattes, des Stängels oder auch der Wurzel, im Allgemeinen als Dreiklang. Ich habe aber auch viele Fünfklänge und halte diese auf diese abstrakte, von der Form gelöste Art und Weise fest. So habe ich im Lauf der Zeit gelernt, dass das, was die Natur uns zeigt, immer stimmt. Bunt ist für mich ein böses Wort, es ist eben nie bunt, sondern immer ein stimmiger Farbklang. Dabei tun sich ganz wunderbare Harmonien auf. 

Suchen sie auch nach Begriffen für diese Farben? Oder geht es vorwiegend um die Farbe und weniger um und das entsprechende Wort?

Nein, wortschöpferisch bin ich nicht tätig, es geht mir um die Farbklänge. Diese wirken auch bei den Parkbänken, die ich für die Kur-Anlagen  gestaltet habe, aufbauend auf dem "Coloarium". Inzwischen sind es zehn Stück. Erst hieß es: für die Dauer dieses Projektes, drei Wochen. Dann hieß es: Ach, wir lassen sie mal den Winter über so. Die Bänke fügen sich in die Umgebung ein, sie sind nicht bunt. Wenn da ein Hortensienstrauch steht, dann ist der genauso bunt. Oder farbig, sagen wir es mal so. Diese Kartons gehören auch zum "Coloarium" (zeigt auf einen ganzen Schrank voller säuberlich gestapelter Kartons). Und hier habe ich ausprobiert, ob sich die Farbklänge auch kreuz und quer kombinieren lassen. Und das funktioniert. Man kann blättern und gucken, und egal welche Farben nebeneinander zu liegen kommen, es passt. "Die Welt ist Farbe", das ist ein Satz von Nikolaus von Kues. Er hat damals, im 15. Jahrhundert, schon festgestellt, das die Linie ein Konstrukt des Verstandes ist. Und wenn wir meinen, eine Linie zu sehen, ist es einfach nur die Grenze der Farbe. 

Neben den "Prismatischen Bildern" und den Blättern des "Coloariums" gibt es eine weitere Werkreihe mit dem Titel "Pangea". Was hat es mit diesen farblich in gedeckteren Tönen gehaltenen Arbeiten auf sich?

Mein erstes Studium begann ich, als ich 18 war. Ich studierte Geografie und Französisch und habe auch eine Zeit lang unterrichtet. Ich nehme an, dass dieses Geografiestudium sich jetzt niederschlägt. Es gibt den Ur-Kontinent Pangea, der seltsamerweise die Form eines Embryos von einem Rüssel-Wesen hatte. Er zerbrach und bildet unsere heutige Welt. Nordamerika und Südamerika driften auseinander und irgendwann wird es wieder einen Einheitskontinent geben. Das Motiv dieser sich verändernden Welt habe ich in verschiedenen Medien bearbeitet, es gibt Hinterglasmalereien, Tuschzeichnungen und Malereien auf Leinwand. 

Das heißt, da geht es hier weniger um die Farbe, als vielmehr um die Thematik des Zerbrechens?

Ganz genau. An dieser Thematik bin ich immer wieder dran. Diese Arbeit heißt "Das Lied von der Erde". Es gibt von Mahler einen sinfonischen Liederzyklus mit dem gleichen Titel. Was Sie hier sehen, sind die Schichtungen der Erde. Die "Schichtungen" sind ein Teilaspekt der "Pangea"-Serie und kommen zwischendurch immer wieder hoch.

Das Motiv der Schichtungen verbindet diese Serie wiederum mit den "Prismatischen Bildern".

Richtig, Schichtungen mal so und mal so. Hier habe ich auch Kugeln gestaltet. Das ist Terrakotta.

Sind das wiederum Zustände der Kontinentaldrift?

Genau, das sind jeweilige Zustände und darüber hinaus die Metapher zum menschlichen Leben. Auch da gibt es die Situation, dass man sich zueinander hingezogen fühlt, und dann gibt es wieder Brüche wo man sagt: auf ein Neues. 

Und diese Hinterglasmalerei, gehört sie ebenfalls in diesen thematischen Kontext?

Genau. Die Hinterglasmalereien haben verschiedene Ebenen, es sind doppelbödige Arbeiten. Die Strukturen auf diesen Ebenen erinnern an Nervenfasern oder kleine Lebewesen. Es sind Frottagen, also Durchriebe von Objekten und darüber die Konturen der Kontinente. Dieses hier hat als Titel ein Goya-Zitat, "Der Schlaf der Vernunft erweckt Ungeheuer".

Die Gebilde, die sich aus den Strukturen ergeben, erinnern an Fossilien. Sie besitzen Max-Ernst-hafte, groteske Züge.

Ja, man meint Gesichtszüge zu erkennen. Die Fantasie kann auf Wanderschaft gehen.

Es ist interessant, dass der Verstand automatisch versucht, Dinge zu erkennen.

Genau, wir merken es auch immer, wenn wir in die Wolken gucken. Diese Form von Pareidolie, also von Gestaltenseherei, habe ich erst kürzlich bei der Gestaltung eines Innenraumes aufgegriffen und mit dem Pangea-Motiv verschmolzen. Der Raum ist auf einer Station in einem Altersheim, auf der jetzt geflüchtete Ukrainerinnen leben. Auf den ersten Blick sieht man nur Wolken, wenn man genauer hinschaut, erkennt man die Kontinente. Die Zerbrechen des Ur-Kontinents ist eine visuelle Metapher für das Leben: auch Wünsche und Biografien zerbrechen. 

Wolken tauchen auch in einer umfangreichen Reihe kleiner Aquarelle auf. 

Ja, diese Aquarelle gibt es stapelweise. Es war ein Ritual: Über Jahre hinweg habe ich mich morgens, um Viertel vor acht, zuhause in mein kleineres Zweitatelier gesetzt. Der Blick dort geht nach Osten. Tag für Tag habe ich in diesen postkartengroßen Blättern die Farbnuancen des Morgenhimmels eingefangen. 

Es ist faszinierend, dass es uns Menschen so packt, wenn wir einen Sonnenauf- oder Sonnenuntergang sehen. Wieso geht uns das so nahe?

Ich denke, das ist die Farbe. In einem Gedicht von Goethe heißt es, dass Gott sich langweilte und deshalb die Morgenröte erschuf. 

Ebenfalls packend ist Ihre "Echo"-Serie. Die Bilder beschäftigen sich mit essentiellen Themen.

Ja, die Serie beschäftigt sich mit Momenten, die das Herz belasten. Sie basiert auf Kardiogrammen meines eigenen Herzens und kombiniert diese mit figurativen Darstellungen der Lebensstationen Geburt, Pubertät und Tod. Ausnahmsweise steht hier weniger die Farbe im Vordergrund als vielmehr das Thema. 

Ihre eigenen Lebensstationen waren ebenfalls nicht immer einfach, der Weg zur Kunst war von zahlreichen Schwierigkeiten geprägt. 

Na ja, sagen wir es mal so: Ich wollte von Anfang an Kunst studieren. Meine Mutter gehörte jedoch zur Kriegsgeneration, sie hat Gruseliges erlebt. Ich war noch nicht richtig auf der Welt, da war mein Vater tot, und sie musste für uns zwei sorgen. Noch heute höre ich den Satz: "Von der Kunst kannst du nicht leben". Das waren die Vorurteile. In Mainz war es damals so, dass ich Kunst nicht an der Uni studieren konnte. Also habe ich zunächst Geografie und Französisch studiert. Als ich meine erste Stelle angetreten habe, bin ich sofort zum Kunsterzieher dort marschiert und sagte, ich möchte gern Kunst unterrichten, auch wenn ich es nicht studiert habe. Sie brauchten damals Kunsterzieher, sodass ich Glück hatte. Irgendwann kam der Moment, wo ich sagte: Jetzt muss ich Nägel mit Köpfen machen. Das war 1985, da war meine Tochter ganz klein. 

Und dann?

Das Zweitstudium an der Wiesbadener Freien Kunstschule begann ich 1985. Ich schlug mir damals so manche Nacht um die Ohren. Tagsüber Schule und Familie, abends Unterrichtsvorbereitung, Vorlesungen und Übungen und nachts zeichnen und malen bis 2 Uhr. Also habe ich den Schuldienst samt Verbeamtung quittiert, mit allen Konsequenzen. Ursprünglich wollte ich im Anschluss an die Zeit an der Wiesbadener freien Kunsthochschule, ich hatte mich mit deren Leiter total überworfen, er nahm mir übel, dass ich auch das Fach Zeichnen belegt hatte neben der Malerei am Städel weiter studieren wollte. Dort wurde ich von dem Professor, der meine Mappe begutachtete, mit folgenden Worten abgelehnt: "Ich hätte Sie gerne als Schülerin. Aber: Sie haben Familie. Da können Sie sich nicht um beides kümmern". 

Wie haben Sie reagiert?

Ich bekam einen Wutanfall, sagte, dass er meine Arbeiten beurteilen soll und nicht meinen Familienstand. Das führte zwar zu Applaus bei den anwesenden jungen Frauen, aber bei ihm zu keinem Gesinnungswandel. So besuchte ich die kunsthistorischen Vorlesungen als Gasthörerin. Und machte mich dann ohne Abschlusszeugnis 1992 selbstständig.