60 Jahre "Unikko"

Wie ein Blumen-Print die Welt eroberte

Vor 60 Jahren gestaltete die finnische Malerin Maija Isola ein Blumenmuster für die Textilfirma Marimekko. Heute gehört der "Unikko"-Print zum nordischen Kulturerbe, wird ganz unironisch geliebt - und blüht sogar in der Kunst

Die Frau am Kaffeestand schaut ein wenig verständnislos. Pfand? Wieso Pfand? Auf dem Alten Marktplatz am Hafen von Helsinki werden die Heißgetränke in Porzellantassen mit buntem Blumendruck serviert. Designinteressierte Kundinnen und Kunden identifizieren das Muster sofort als einen finnischen Klassiker: der Print "Unikko" (Mohn) der Firma Marimekko. Bei einigen Gästen dürfte sich sicher der Impuls regen, sich mit dem traditionell starken Filterkaffee auch gleich das dazugehörige Geschirr-It-Piece als Souvenir zu sichern. Deshalb die Frage nach dem Tassenpfand. Aber die Verkäuferin winkt ab. In Finnland hegt man großes Vertrauen in die menschliche Ehrlichkeit. Und ein pragmatisches Verhältnis zu weltweit berühmten Blüten.

"Unikko", das in diesem Jahr seinen 60. Geburtstag feiert, ist ein seltener Fall eines künstlerischen Nationaldenkmals, das wirklich geliebt wird. Zum Jubiläum wurden die bunten abstrahierten Blumen auf die Fassaden von Helsinkier Wahrzeichen projiziert. In ihrer Geschichte zierten sie außerdem bereits Flugzeuge der Linie Finnair und Straßenbahnen in Hongkong. Gleichzeitig ist das Design auch so fest im Alltag vieler Finninnen und Finnen verankert, dass man sich ab und zu fühlt, als hätte man sich in einen Marimekko-Imagefilm verlaufen. Steigen die Temperaturen im Frühling über 15 Grad, holen gefühlt die Hälfte der Frauen ihre "Unikko"-Kleider in verschiedenen Längen und Farbkombinationen aus dem Schrank. Auch für etwas queerere Looks scheint sich der Print hervorragend zu eignen. Mohn-Röcke, -Taschen oder -Blusen werden auch selbstbewusst mit Vollbart und Basecap kombiniert. Hinzu kommen blumige Handtücher, Bettwäsche, Teller und Servietten zu allen erdenklichen Gelegenheiten.

Dabei hätte es den erfolgreichsten aller Marimekko-Entwürfe eigentlich gar nicht geben dürfen. 1951 wurde das ikonische Textilunternehmen vom Ehepaar Armi und Viljo Ratia gegründet. Die beiden spezialisierten sich auf leuchtende Farben, klare Schnitte und grafische Muster und bauten sich damit schnell eine internationale Fangemeinde auf. In den 60er-Jahren war die First Lady der USA Jackie Kennedy genauso angetan von den finnischen Kreationen wie die psychedelisch gestimmte Rockband Led Zeppelin. Heute machen Stilvorbilder wie der Designer Mauro Severino die kräftigen Prints auch für ein jüngeres, Hip-Hop-affines Publikum tragbar.

 

Einen großen Anteil am Erfolg hatte die Malerin und Designerin Maija Isola (1927 - 2001), die insgesamt über 500 Muster für Marimekko entwarf. Trotz der engen und äußerst fruchtbaren Zusammenarbeit zwischen der Künstlerin und dem Unternehmen, war die Beziehung nie konfliktfrei. Isola fühlte sich oft auf ihre Stoffdesigns reduziert und sehnte sich nach mehr Anerkennung für ihrere freien Arbeiten. Auch war sie mit den Vorgaben von Armi Ratia nicht immer einverstanden. 

Diese hatte zum Beispiel verfügt, dass es bei ihrer Marke niemals Blumenmuster geben sollte - diese Gewächse seien in der Natur am schönsten, nicht auf Textilien. Als kreative Trotzreaktion skizzierte Maija Isola gleich mehrere Serien mit Blütenthema, "Unikko" war eine davon. Die Künstlerin wollte keine realistischen Pflanzen oder zierliche Streublümchen erschaffen, sondern setzte auf starke Linien und scharfe Silhouetten. Ihr Mohn ist erkennbare Form und abstraktes Ornament zugleich, er ist genuin malerisch gedacht und ausgeführt. 

Mit seinen Anklängen an die bunte Flächigkeit der Pop Art traf "Unikko" - das musste auch Armi Ratia erkennen - außerdem einen Nerv der Zeit. Fast zeitgleich mit Maija Isola veröffentlichte Andy Warhol in den 1960er-Jahren seine "Flowers-Serie" mit monochromen Blüten, die einige stilistische Ähnlichkeiten mit einer Marimekko-Tapete aufweist. 

Identitätspolitik im Teddy-Format

Bewegt man sich im "Unikko"-Geburtstagsjahr durch Helsinki, begegnet einem diese Geste arbeitnehmerischen Ungehorsams, die zum Synonym für finnisches Design avancierte, nicht nur in Schaufenstern und an Passantinnen, sondern auch im Museum für zeitgenössische Kunst. In seiner Einzelausstellung "It's A Small World" im Kiasma nimmt sich der Künstler Simon Fujiwara dem identitätsstiftenden Muster an und verknüpft es mit einer eigenen Serie. Mit "Who The Bear" hat er einen comichaften Antihelden geschaffen, der an eine existenzialistische Version von Winnie Puuh erinnert. Das gelbe Bärchen reist durch verschiedene Epochen und Orte und stellt sich dabei die großen Fragen, die die Kunstwelt gerade umtreiben: Wer bin ich? Für wen mache ich das eigentlich? Für wen kann ich sprechen? Identitätspolitik im Teddy-Format.

Für die Ausstellung in Helsinki hat Fujiwara ein neues Kapitel für Who kreiert, in dem dieser sich in finnische Klischees einfügt. Der Bär verwandelt sich in einen nilpferdigen Mumin, geht in die Sauna und wohnt einer Tom-of-Finland-Orgie bei. Auch mit den Design-Klassikern nimmt er es auf: So verbiegt er auf einem der Werke seinen Körper zur berühmten Iitala-Vase von Alvar Aalto. Und natürlich darf "Unikko" nicht fehlen. Aus dem bekannten Blumenarrangement in Rot und Gelb werden nach Art von M.C. Escher nach und nach kleine Bärengesichter, die in voller Blüte stehen und schließlich die ganze obere Bildhälfte übernehmen. "A Finland For Who?" heißt die äußerst charmante Serie, die man gleichermaßen als Hommage und Parodie nationaler Heiligtümer lesen kann. 

"A 'Unikko' For Who?", könnte man in diesem Sinne weiterfragen. Und im Marimekko-Jubiläumsjahr muss die Antwort einfach lauten: für alle.   

Simon Fujiwara "A Finland for Who?", 2023, Installationsansicht Kiasma, Helsinki, 2024
Foto: © Andrea Rossetti, Courtesy Simon Fujiwara, Kiasma Museum of Contemporary Art, Helsinki; Gió Marconi, Milano; TARO NASU, Tokyo, Dvir Gallery Paris, Tel Aviv, Brussels and Esther Schipper Berlin/Paris/Seoul

Simon Fujiwara "A Finland for Who?", 2023, Installationsansicht Kiasma, Helsinki, 2024