Auf der Berlinale feierte das Langzeitprojekt "Exergue - On Documenta 14" des Regisseurs Dimitris Athiridis Premiere: ein 14 Stunden langer Mammutfilm aus 14 Kapiteln, der sich mit der Entstehung der Documenta von 2017 in Kassel und Athen beschäftigt. Zwei Jahre lang begleitete die Kamera den künstlerischen Leiter Adam Szymczyk auf seinem Weg zur Doppelweltkunstschau. Das Werk bleibt ohne jeglichen Kommentar und zeigt Verhandlungen, Teamsitzungen und Künstlerinnengespräche teilweise in Echtzeit. Rasante Handlung darf man beim Binge-Watching also nicht erwarten, eher einen Blick hinter die Mechanismen der Kunstwelt mit all ihren Abhängigkeiten und Widersprüchen.
Wenn man die handelnden Personen kennt, nimmt das Ganze stellenweise Züge einer Soap an. Im Fokus steht jedoch beständig Adam Szymczyk; die Kunstmaschine Documenta bekommt ein menschliches Gesicht. Der polnische Kurator wurde für seine D14 aufgrund ihrer politischen Ausrichtung und dem entstandenen Finanzdefizit öffentlich stark angegriffen. Man kann den Film durchaus als eine Antwort aus der Innenperspektive verstehen, ein Dokument "wie es wirklich war". Falls Sie gerade keine Zeit für 14-stündige Kunst-Marathons haben, hier sind einige Beobachtungen zum Geschehen auf der Leinwand.
1.
So ausführlich und realistisch wie bei "Exergue" wurde der Beruf des Kurators wohl noch nie auf der Leinwand gezeigt. Der Film ist insofern ein Gegenbild zu allseits beliebten Kunstwelt-Satiren wie "The Square", in denen Ausstellungsmacher als eitle, aufmerksamkeitsgierige Trottel mit Schal dargestellt werden, die mehr an schicken Partys und Sex interessiert sind als an Kunst.
Für alle, die ernsthaft über eine Laufbahn im Kulturbetrieb nachdenken, ist die Documenta-Beobachtung so erhellend wie auch ernüchternd. Zwar gibt es auch Recherchereisen an aufregende Orte (und die ein oder andere Party), der Großteil der Arbeit besteht jedoch auch bei einer prestigeträchtigen Documenta aus endlosen Meetings, die schon beim Zuschauen ermüden, Verhandlungen mit Ausstellungsorten, Politikern und Geldgebern und dem Managen kleiner und größerer Krisen. Dass Adam Szymczyk sich das in zwei Städten, Kassel und Athen, gleichzeitig angetan hat, wirkt im Nachhinein geradezu masochistisch. Ein Kurator oder eine Kuratorin ist eine einzige Pufferzone, die von allen Seiten mit unterschiedlichen Interessen und Befindlichkeiten belagert wird. Im Film wird jedoch deutlich, dass Szymczyk am allerliebsten über Kunst spricht und nachdenkt. Es ist die Absurdität einer Documenta, dass die Zeit dafür immer zu knapp erscheint.
2.
Man kann den Eindruck gewinnen, dass die Documenta nicht nur von VW und der Sparkasse gesponsert wird (was ständig thematisiert wird), sondern auch von Apple. Gefühlt die Hälfte des Films zeigt Mitglieder des künstlerischen Teams hinter Notebooks mit leuchtenden Äpfeln. Diese Abhängigkeit von den großen Tech-Konzernen wird in der Kunst so gut wie nie reflektiert. Alle zu busy mit zoomen und gmailen auf ihren Macbooks und Smartphones.
3.
Dass in der Kunstwelt viele große Egos und Obsessionen aufeinandertreffen, ist mehr als nur ein Klischee. Zu den amüsantesten Szenen des Films gehört der Besuch einer Künstlerin in Kassel, die mit ihrem Projekt nicht so recht vorankommt. Sie müsse zuerst ihre Galle entgiften, erklärt sie einem sichtlich um Contenance ringenden Adam Szymczyk in seinem Büro, das Böse sitze nämlich in der Leber, erst dann könne wieder kreative Energie fließen. Das kuratorische Team bleibt unterstützend und freundlich interessiert. Vielleicht könne sie auch Schmuck aus ihren ausgeschiedenen Gallensteinen herstellen.
Ein anderer Künstler fragt mitten in einem Arbeitstreffen, wo das nächste Krankenhaus sei, er fühle einen Nervenzusammenbruch in exakt 15 Minuten kommen. Das Chaos, das das Organisationsteam irgendwie rational in den Griff bekommen will, lassen einige Künstler in ungefilterter Emotion zu und finden eine Form dafür. Dass all diese verschiedenen Persönlichkeiten mit ihrer visuellen Sprache letztlich zu einer großen Ausstellung zusammenkommen, ist eines der großen Wunder der Kunst. Als alle Beteiligten der D14 zur Pressekonferenz in Athen gemeinsam eine Soundperformance auf der Bühne aufführen, überträgt sich diese Magie auch ins Kino.
4.
Niemand organisiert eine Documenta allein. Auch die 14. Ausgabe war ein kollektives Unterfangen mit Co-Kuratoren wie Dieter Roelstraete, Candice Hopkins, Paul B. Preciado, Pierre Bal-Blanc, Hila Peleg, Natasha Ginwala und dem heutigen HKW-Leiter Bonaventure Ndikung, die der Ausstellung alle ihren persönlichen Stempel aufgedrückt haben. Wie das Team darum ringt, die unterschiedlichen Schwerpunkte zusammenzubringen (ganz uneitel sind die Kunstermöglicher dann auch nicht), wird im Film sehr anschaulich.
Trotzdem bleibt das Interesse des Regisseurs Dimitris Athiridis die meiste Zeit an Adam Szymczyk kleben, der als großer, oft unverstandener Schmerzensmann der Documenta durch den Film schreitet. Grüblerisch starrt er aus Auto-, Bus- und Flugzeugfenstern und wird so zum tragischen Held erhöht, der seine Vision gegen die Widerstände von außen verteidigen muss. Auch die ausgewählten Szenen lassen den Documenta-Leiter in überwiegend positivem Licht erscheinen, nur selten scheinen Spuren von Gereiztheit oder Ungeduld durch. Arthiridis' Komposition versprüht einige "Fanboy-Vibes", ist also eher als Hommage denn als kritische Auseinandersetzung mit seiner Hauptfigur zu verstehen. Was Gäste von D14-Partys schon wissen, hier aber noch mal auf der Leinwand festgehalten wird: Szymczyk ist ein ziemlich guter Tänzer.
5.
Unfreiwillig komisch wird der Film, wenn zwischendurch die Diskussion aufkommt, dass sich der Kunstbetrieb von der scheinbar allmächtigen Kuratorenfigur verabschieden muss, die dem Publikum ihre Weltsicht aufdrückt. Während der D14 wurde in deutschen Feuilletons gefordert, Kuratoren abzuschaffen. Die Alternative? Ein kollektives, basisdemokratisches Verfahren für die Gestaltung von Großevents. Moment, da war doch was. Wie dieses Gruppenexperiment fünf Jahre später bei Ruangrupa und der Documenta Fifteen ausging, ist bekannt. Nun wünscht man sich wieder starke Eingreifer, die Verantwortung übernehmen – hier wäre das notorisch schlechte Kurzzeitgedächtnis der Öffentlichkeit bewiesen.
6.
Dass Adam Szymczyk und die Kasseler Bevölkerung nicht wirklich miteinander warm geworden sind, ist kein Geheimnis. Im Film wird die Skepsis bis Abneigung des Kurators gegen die nordhessische Welt außerhalb der Kunst-Bubble jedoch noch einmal ausführlich ausbuchstabiert. "Ich habe mal versucht, hier Spaß zu haben", erzählt er der Künstlerin Otobong Nkanga, die angesichts eines vorgeschlagenen Rechercheaufenthalts in Kassel ein wenig Panik in den Augen hat. "Aber es hat nicht funktioniert". Im Film besteht die deutsche Heimat der Documenta vor allem aus biederen Sparkassen-Sponsoren, die nur höchst widerwillig besucht werden, provinziellen Politikern und Besuchern, die die Ausstellung als "Festival mit Würstchen" haben wollen.
Dass die Kasseler zum größten Teil fest und leidenschaftlich hinter der Documenta stehen (auch oder gerade während Finanz- und Antisemitismus-Skandalen) und die lokale Verankerung eine Stärke der Ausstellung ist, die sie von anderen Biennalen und Großevents unterscheidet, findet keinen Platz in den 14 Stunden. In den gezeigten Szenen bestätigt sich das Klischee von der leicht überheblichen internationalen Kunst-Crowd, die sich offenbar nur ungern mit der Umwelt auseinandersetzt, aus der ein Großteil ihrer Förderer und ihres Publikums kommt.
7.
Apropos Finanz-Skandal: Wer sich 2017 eingehender mit dem Defizit der Documenta 14 von 7,6 Millionen Euro beschäftigt hat, erfährt auch durch den Film nichts substanziell Neues. Wie bereits im Zuge der Aufarbeitung anklang, ist der Versuch, zwei Ausstellungen in zwei Städten zum Preis von einer zu stemmen, für die Überziehung des zum Großteil aus öffentlichen Geldern bestehenden Budgets verantwortlich. Detaillierter lässt sich ableiten, dass vor allem die logistische Großanstrengung, die Sammlung des Athener Museums EMST ins Fridericianum zu bringen und dafür den wegen der Finanzkrise nie eröffneten Standort in der griechischen Hauptstadt zu bespielen, für erhebliche Mehrkosten gesorgt hat. Auch wurden laufende Kosten offenbar nicht oder nur ungenügend einkalkuliert. "Vielleicht war alles zu viel", sagt Adam Szymczyk in einem seltenen selbstkritischen Moment.
Aus allen Unterhaltungen über Geld, die im Film vorkommen, lässt sich schließen, dass das Finanzdefinizit keine bewusste, möglicherweise böswillige Sprengung des Systems war, wie es dem D14-Team teilweise unterstellt wurde. In einem von Kapitalismuskritik geprägten Kunstuniversum wollte man sich von so etwas profanem wie einem Budget allerdings nicht von ambitionierten Plänen abbringen lassen. Immer, wenn das Thema Geld aufkommt, scheinen die Kuratoren einen Abwehrzauber durchzuführen (abgesehen von einigen Pragmatismus-Anfällen von Dieter Roelstraete). Anstatt die eigenen Pläne zu hinterfragen oder auf Machbarkeit zu prüfen, wird die Struktur der Documenta kritisiert, die sie an der kurzen Leine halte. Private Sponsoren will man aus Integritätsgründen auch nicht ins Boot holen (obwohl es sie am Ende dann doch gab, nur sehr diskret platziert). Die Darstellung des künstlerischen Teams als Verfechter der Avantgarde gegen die engstirnige Zahlenreiterei der Geschäftsführung und der Gesellschafter fällt dann doch etwas schwarz-weiß aus. Hier wirkt Athiridis' Film wie eine große Rechtfertigung im Sinne der gescholtenen Ausstellungs-Macher.
Immerhin kann man das Nachdenken der D14 über die eigene Finanzierung als Vorstufe zur Documenta Fifteen verstehen, die eine völlig neue Ökonomie einer Großausstellung vorschlug - dabei aber schwarze Zahlen schrieb. Das Thema Geld und alternative Wirtschaftsmodelle wird die Kunst weiter beschäftigen.
8.
Ein großer Teil des Films widmet sich der Berichterstattung der Medien über das Finanz-Defizit, die von den Beteiligten vor allem als Kampagne wahrgenommen wurde. Den Journalisten, die die Documenta kritisieren, werden immer wieder niedere Motive und Voreingenommenheit unterstellt. Zweifellos wurden Adam Szymczyk und sein Team teils in inakzeptabler und auch rassistischer Weise angegangen (so wurde der Kurator als "der Pole" bezeichnet und ihm unterstellt, das Geld veruntreut zu haben). Und natürlich hatte auch die deutsche Politik ein Interesse daran, sich durch das Ausgleichen des Fehlbetrags als Retter der Weltkunstschau zu profilieren.
Dass jedoch auch eine freie Presse zu den Säulen der Demokratie gehört, die die D14 so gern verteidigen wollte, spielt in dieser Sichtweise keine Rolle. Das Defizit an sich war schließlich keine Erfindung. Hier fällt das Gut-Böse-Schema (bei aller Empathie für einen sichtlich betroffenen Adam Szymczyk) ziemlich starr aus.
9.
Die argentinische Künstlerin Marta Minujín wollte ihren riesigen Parthenon der Bücher auf dem Kasseler Friedrichsplatz ursprünglich mit Integrations-Handbüchern für Geflüchtete verkleiden. Ihre Bedenken gegen verbotene Bücher aus aller Welt: das europäische Klima der Angst nach den islamistischen Anschlägen von Paris, Brüssel und Nizza. Wenn auch zensierte Schriften aus dem Irak gezeigt würden, könnte der IS den Tempel in die Luft sprengen, sagt Minujín zu Adam Szymczyk. Erstaunlich, wie befremdlich diese Bedenken nur acht Jahre später klingen. 2015 war ganz in der Nähe von Kassel noch ein ganzes Stadion in Hannover wegen einer Terrorwarnung geräumt wurden - inklusive der inzwischen berüchtigten Äußerung des damaligen Innenministers Thomas de Maizière: "Teile meiner Antwort würden die Bevölkerung verunsichern". Die verbotenen Bücher hingen dann schließlich doch am Parthenon, ohne größere Zwischenfälle.
10.
Kuratorensprech is real.
11.
Auf einer Veranstaltung während einer Recherchereise im Libanon wird Adam Szymczyk von einer Journalistin des Magazins "Artforum" angesprochen, ob sie ein Foto von ihm machen dürfe. Der Kurator hat allerdings nach eigener Aussage keine Lust, in einer Gossip-Kolumne zu landen, in der die Kunstwelt als Allianz aus Dealern, Kuratorinnen, Künstlern und Galeristinnen entworfen werde. Dieses System zeige jedoch Anzeichen des Sterbens. "Die Party ist vorbei", sagt Szymczyk. "Glauben Sie wirklich, dass es für immer Kunstmessen geben wird?" Die Annahme, dass die traditionelle Kunstwelt kurz vor dem Kollaps steht, zieht sich durch viele Unterhaltungen des D14-Teams. Bisher ist diese Prognose nicht besonders gut gealtert. Vielmehr hat sich die Branche nach der Corona-Pause als ziemlich unerschütterlich gezeigt. Statt degrowth ist alles noch größer geworden, neue Biennalen wachsen gefühlt wöchentlich aus dem Boden und die Markt- und Gossipkolumnen sind gut gefüllt. Die "Artforum"-Reporterin bekommt ihr Foto dann doch noch.
12.
Athen sieht auf der Kinoleinwand wirklich aufregender aus als Kassel.
13.
Ein Mitarbeiter sagt Adam Szymczyk am Ende der Kasseler 100 Tage, dass es nur ein paar Jahre dauern würde, bis die Genialität der Documenta 14 allgemein erkannt werden würde. Tatsächlich sind einige Themenschwerpunkte, die 2017 noch als revolutionskitschige Ideologie kritisiert wurden, inzwischen Kunst-Mainstream: beispielsweise der Fokus auf indigene Praktiken des Widerstands, das Aufbrechen des binären Geschlechtersystems oder die kritische Auseinandersetzung mit der EU-Flüchtlingspolitik. Auch die Hinwendung zum "Globalen Süden" als Gegengewicht zu westlicher Kulturhegemonie findet heute in den meisten großen Institutionen statt und ist in Teilen der Kunstwelt schon fast wieder eine Floskel geworden. Am schönsten ist es jedoch, in opulenten Bildern an einige der fantastischen Arbeiten der D14 erinnert zu werden: Hiwa K.s Wohnröhren, Rebecca Belmores Marmorzelt, Vivian Suters wehende Leinwände, Olu Oguibes Obelisk der Gastfreundschaft oder Pope.Ls "Whispering Campaign".
14.
Im Film wird die D14 in Adam Szymczyks Autoradio als "meistgehasste Documenta aller Zeiten" bezeichnet. Diese "Auszeichnung" scheint allerdings ein Wanderpokal zu sein. Zumindest ist sie inzwischen zweifellos zur Documenta Fifteen weitergereicht worden. Fortsetzung folgt.