Streaming-Tipps

11 Kunst-Filme, die sich im April lohnen

Der vielleicht beste Film aller Zeiten, die Frau, die auf Andy Warhol schoss, und das Leben von Hilma af Klint als Biopic: Das sind unsere Streaming-Tipps des Monats


Die Schönheit der Geschwindigkeit

Wie technische Innovation in der Vergangenheit aussieht: "Ferrari" von Michael Mann versetzt uns nach Modena in den späten 1950er-Jahren. Enzo Ferrari (Adam Driver), der früher selbst Rennen fuhr, steckt in einer tiefen Krise. Seiner Rennwagenfirma droht der Bankrott. Seine Ehe mit Laura (Penelope Cruz) ist an der Trauer um den Sohn Dino zerbrochen, der mit Mitte 20 starb. Noch kann Enzo die Existenz seiner Ersatzfamilie geheimhalten: In einer abgelegenen Villa wohnt seine Geliebte Lina Lardi (Shailene Woodley) mit dem kleinen gemeinsamen Sohn.

Enzos größte Leidenschaft bleibt der Rennsport. In seiner Besessenheit ist er eine typische Michael-Mann-Figur. Und obsessiv geht der berühmte US-Regisseur ja selbst zu Werke. Am "Ferrari"-Projekt hat der Filmemacher mit Unterbrechungen 30 Jahre lang gearbeitet. Man sieht das dem Film an. Und man hört es auch –  eine Symphonie der Motoren!

Es steckt eine unglaubliche Liebe zum Detail und zum perfekten Timing in diesem Streifen. Anspannung und Entspannung sind in kunstvoll austariert. Auch das zwischenmenschliche Drama kommt nicht zu kurz. Großartig verkörpert Penelope Cruz Enzos Ehefrau und gleichberechtigte Geschäftspartnerin Laura Ferrari. Adam Driver ist von der Papierform her keine Idealbesetzung für den entschluss- und risikofreudigen Fabrikanten schnittiger Sportwagen. Doch die stoische, mitunter grüblerische Art des Schauspielers gibt der Geschichte paradoxerweise eine besondere Tiefe. 

Verbissen strebt Enzo den Sieg seiner Mannschaft beim legendären "Mille Miglia"-Rennen über öffentliche Straßen in Norditalien an. Michael Mann erzählt, wie der junge Fahrer Alfonso de Portago (Gabriel Leone) zur Ferrari-Equipe stößt und wie der Firmenchef dessen Killerinstinkt weckt, ihn zu riskanten Überholmanövern animiert, selbst wenn einer der Beteiligten dabei sein Leben lässt. Einmal schwärmt Enzo vom Heck eines Ferrari-Wagens, das so schön geformt sei wie eine "Skulptur von Antonio Canova". Ansonsten dreht sich "Ferrari" kaum um Auto-Ästhetik und Konsumobjekte. Das futuristische Manifest Filippo Tommaso Marinettis hätte Enzo Ferrari aber garantiert unterschrieben: "Ein aufheulendes Auto, das auf Kartätschen zu laufen scheint, ist schöner als die Nike von Samothrake."

"Ferrari", bei Amazon Prime


Der beste Film aller Zeiten?

Mehr als drei Stunden lang fesselt uns "Jeanne Dielman, 23 Quai du Commerce, 1080 Bruxelles" (1975) an das Leben einer Witwe. Mit statischen Einstellungen sind wir mit dem Alltag einer Frau um die 40 konfrontiert. Langweilig? Keine Spur. Es ist der große feministische Wurf der belgischen Künstlerin Chantal Akerman (1950–2015), was sich mit 50 Jahren Verspätung nun endlich herumspricht. Seit 1952 fragt das British Film Institute (BFI) im Zehnjahresrhythmus Kritikerinnen und Kritiker nach den besten Filmen. Als Nummer eins verwies "Jeanne Dielman" 2022 Alfred Hitchcocks "Vertigo" auf Platz zwei, gilt nun also als bester Streifen aller Zeiten.

Tatsächlich war der Spitzenplatz längst überfällig. Das Werk ist dem breiten Publikum eher unbekannt, aber die Tipps haben ja auch Fachleute abgegeben. Sie haben nicht nur für Chantal Akermans bekanntesten Film votiert, sondern auch für einen, dessen Anerkennung seit 1975 kontinuierlich gewachsen ist. Ein großer, eigenartig fesselnder Film, der uns zu Voyeuren macht. 

Minutenlang sehen wir Jeanne dabei zu, wie sie Kartoffeln schält. Sie paniert ein Schnitzel, trinkt Kaffee, hilft ihrem Sohn bei den Hausaufgaben. Und prostituiert sich. Das schockierend-gewaltsame Ende des Films setzt ein Fragezeichen hinter die Studie einer vermeintlich selbst gewählten Lebensroutine. Die fulminante Jeanne-Darstellerin ist Delphine Seyrig, die in den 1970ern auch in der Videokunst und als feministische Aktivistin unterwegs war – was viele nicht gewusst haben. Es wird Zeit für eine Wertschätzung, die sich durch die Präsenz beim Streamingdienst Mubi nun vielleicht auch im Publikum verbreitet.

"Jeanne Dielman", auf Mubi


Die Frau, die auf Andy Warhol schoss

Am 3. Juni 1968 betrat Valerie Solanas Andy Warhols Factory und schoss dreimal auf den Pop-Art-Künstler. Schon damals begann der Kampf um die Deutungshoheit dieser Tat. War Solanas, die mit ihrem "Scum Manifesto" alle Männer von der Erdoberfläche tilgen wollte, eine psychotische Geisteskranke, die einen Rachefeldzug gegen einen berühmten Künstler führte, weil der sie nicht genug beachtet hatte? Oder war sie eine radikale feministische Vordenkerin, die mit gewalttätigen Methoden gegen die Unterdrückung von Frauen kämpfte? 

Ein neuer Dokumentarfilm, der nun auf Arte zu sehen ist, versucht, der Person hinter der Projektionsfläche auf die Spur zu kommen. Anhand von Solanas' Schriften, Archivmaterial und Interviews mit Zeitzeuginnen zeichnet er das Bild einer Frau, die sich gegen eine vorbestimmte Existenz wehrte und dabei zu extremen Mitteln griff. Als Kind wurde sie von ihrem Vater missbraucht, mit 16 verkaufte sie ihr Baby an ein wohlhabendes kinderloses Ehepaar. Wie sie in ihren Erinnerungen schreibt, verstand sie schon damals, wie mächtig und gleichzeitig ausgeliefert Frauen sein konnten, wenn sie ihren Körper einsetzen. 

Die Entscheidung, Andy Warhol zu erschießen, bei dem sie in einem Film mitgespielt hatte, war kein Affekt, sondern ein kaltblütig gefasster Plan. Der Factory-Gründer stehe für alles, was sie verachte, schrieb Solanas. Hier wandelt die Dokumentation auf einem schmalen Grat. Einserseits kann man den empathischen Blick auf Valerie Solanas nachvollziehen, und tatsächlich hat sie aus den Erfahrungen von Unterdrückung bahnbrechende Gedanken abgeleitet, die in der Gender Theorie noch heute relevant sind. Andererseits hat sie jedoch mittelbar einen Menschen getötet. Andy Warhol starb 1987 mit 58 Jahren an den Spätfolgen seiner Schussverletzungen. 

"Ich habe auf Andy Warhol geschossen - Scum Manifesto", Arte-Mediathek, bis 24. Oktober

"Ich habe auf Andy Warhol geschossen - Scum Manifesto", Filmstill
Foto: Courtesy Arte

"Ich habe auf Andy Warhol geschossen - Scum Manifesto", Filmstill


Wie der Süden erobert wurde

Weite, Himmel, ungewaschene Männer, Pferde und Revolver: Auf dem ersten Blick sieht Felipe Gálvez Haberles Spielfilmdebüt "Colonos" wie ein Western aus. Und in gewisser Weise ist es das auch, erzählt es doch auch vom Mythos einer Landnahme, von Aufbruch und Gefahren. Doch haben die weißen Protagonisten in diesem Film absolut nichts Heroisches mehr an sich, sondern offenbaren in ihrer Grausamkeit den Horror des kolonialistischen Kapitalismus.

Die Handlung von "Colonos" (Spanisch für "Siedler") setzt im Jahr 1901 an, als "der Wilde Westen" längst besiedelt ist, der äußerste Süden aber, Patagonien und Feuerland, noch nicht unter Weißen aufgeteilt. In dem kalten, windigen und steppenartigen Grenzgebiet von Argentinien und Chile – die beiden Republiken hatten sich 85 Jahre zuvor von der spanischen Herrschaft gelöst – wurde die indigene Bevölkerung durch gezielte militärische und ökonomische Expansion der noch jungen Nationalstaaten vernichtet. 

José Menéndez, dessen Nachkommen noch heute viel Land in der Region gehört, hatte daran einen bedeutenden Anteil. Für den Großgrundbesitzer waren die nomadischen Feuerland-Indigenen, die seine Schafe jagten, weil sie Land und alles, was darauf lebt, nur als Allgemeingut kannten, ein Ärgernis. Ex-Lieutenant MacLennan (als testosterongetränkter Alpha gespielt von Mark Stanley) nimmt in "Colonos" den Scharfschützen Segundo Camilo (Camilo Arancibia) in den Dienst, einen jungen, schweigsamen Mann indigener Abstammung. Menéndez besteht darauf, dass MacLennan auch den US-Söldner Bill mitnimmt, von dem es heißt, er könne "einen Eingeborenen aus meilenweiter Entfernung riechen". MacLennan verachtet Bill, Bill verachtet Segundo, der wiederum keinerlei Gefühlsregungen zeigt. Alle misstrauen einander.

Das Trio trifft auf seiner Reise auf Militärs, Desperados und Indigene - und alle diese Begegnungen sind von Brutalität und äußerster Stumpfheit geprägt. Der Film zeigt, wie soldatische, also staatlich legitimierte Gewalt Männer empathielos macht und wie sie in einer rechtsfreien Umgebung völlig aus dem Runder läuft.

"Colonos", auf Mubi

Szene aus "Colonos"
© Quijote Films

Szene aus "Colonos"


Wie ein Plastikstuhl die Weltherrschaft übernahm

Dokumentarfilmer Hauke Wendler hat dem Monobloc, dem wohl bekanntesten Plastikstuhl der Welt, einen großen Auftritt auf der Leinwand beschert. In einem mobilen Studio befragt er für seinen Film, der nun bei ARD Kultur zu sehen ist, unter anderem deutsche Normalverbraucher über ihre Erfahrungen mit dem unscheinbaren Lebensbegleiter. Das Urteil fällt erwartungsgemäß vernichtend aus: Der Stuhl, der bereits in den 1970ern entwickelt wurde, sei nicht nur unbequem, instabil und hässlich, sondern auch kulturlos und unökologisch.

Wie kommt es aber, fragte sich der Grimme-Preisträger, dass ausgerechnet diese Design-Verirrung mit einer geschätzten Milliarde verkaufter Exemplare zum erfolgreichsten Sitzobjekt der Welt aufsteigen konnte? Auf seiner zunächst humorig angelegten Recherche hat er in türkischen Fußballstadien, thailändischen Imbissbuden und selbst auf den Folterbildern von Abu Ghraib die Einsatzmöglichkeiten seines Protagonisten studiert, um schließlich überrascht festzustellen, dass der Stuhl in Entwicklungs- und Schwellenländern als Wertgegenstand gilt.

Man flickt und hält ihn dort so lange mit Klebebändern zusammen, bis sich wie in Uganda nur noch die Sitzfläche verwerten lässt, etwa als Bestandteil eines selbst montierten Rollstuhls. In Mexiko verflüssigt man das Polypropylen zurück zum Erdöl, um dieses wieder neu bearbeiten zu können, und in Indien geht es wegen des Rohstoffmangels bei einem großen Teil der Bevölkerung schlicht darum, ob jemand an einem Tisch und nicht auf dem Boden Platz nehmen kann. In diesen Mangel-Kulturen scheinen die Menschen stolz auf ihrem Monobloc zu thronen. Auf die Idee, ein ästhetisches Urteil zu fällen, kommen sie nicht.

Aber entlastet das der Armut geschuldete Recyceln eines demokratischen, weil billigen "Volksstuhls" die Ökobilanz eines Materials, das sich im Meer in tödliches Mikroplastik verwandelt? Und rechtfertigt es die fünf Kontinente umfassende Erdumrundung eines deutschen Filmteams? Für Wendler sind diese aus der nördlichen Hemisphäre kommenden Fragen am Ende seiner acht Jahre langen Reise ein Luxus-Problem. Der Monobloc ist für ihn weder böse noch ein Segen, sondern ein Symbol für Ungleichheit, fehlende Teilhabe und letztlich unterschiedliche Geschwindigkeiten, mit denen sich der Globus auf den gemeinsamen Abgrund zubewegt.

"Monobloc - Auf der Spur des meistverkauften Möbelstücks aller Zeiten", ARD-Kultur


Hilma af Klint - die Frau hinter dem Phänomen

Hilma af Klint hat inzwischen ihren Platz im männliche geprägten Kunstkanon der Moderne eingenommen. Sie gilt als "Erfinderin der Abstraktion", ihre Werke hängen in Ausstellungen neben Kandinsky und Mondrian. Der schwedische Regisseur Lasse Hallström hat, basierend auf ihrer Biografie, 2022 ein Biopic veröffentlicht, das den Arbeitsprozess der Künstlerin in den Fokus rückt - und nun auch in deutscher Version verfügbar ist.

Der Spielfilm zeigt im Schnelldurchlauf verschiedene Stationen aus dem Leben af Klints – den Tod ihrer Schwester Hermina, das Studium an der Akademie, ihre übersinnlichen Rituale und die Wiederentdeckung ihrer Bilder, auch wenn hier und da etwas kreativ ergänzt wurde. Mittlerweile wissen wir, dass die Künstlerin ihre ungegenständlichen Werke nicht allein im stillen Kämmerlein malte, sowie um den Einfluss der spiritistischen Bewegung auf ihre Arbeit. Daran knüpft der Film an und legt den Fokus auf die “Gruppe der Fünf”, der neben Hilma af Klint und ihrer Partnerin Anna Cassel drei weitere Freundinnen angehörten. Gemeinsam hielten sie Seancen ab, unternahmen Reisen, mischten Farben an und arbeiteten an den Bildern für den Tempel.

Im Gegensatz zu männlichen Figuren wie Rudolf Steiner und ignoranten Akademieprofessoren sind die dargestellten Freundinnenschaften ein Ort von Zuneigung, Unterstützung und kreativem Austausch und regen dazu an, über unser Verständnis von Autorinnenschaft in der Kunst nachzudenken. Wünschenswert wäre es allerdings, wenn das nächste Biopic über ihr Leben den Titel “Af Klint” bekäme, nicht den immer etwas verniedlichenden Vornamen.

"Hilma. Alle Farben der Seele", bei Amazon Prime und Apple TV+

"Hilma", Filmstill, 2022
Foto: Juno Films

"Hilma", Filmstill, 2022


KI trifft Körper 

Seit Jahren diskutieren Tech-Experten, Museumsleiterinnen und Theoretikerinnen, was KI mit der Kunst machen wird. Wer seltener gefragt wird: Künstlerinnen und Künstler, die das maschinelle Lernen längst in ihren Arbeiten benutzen und damit Fragen zu Urheberschaft, Datenverarbeitung und Zugang zum Bildgedächtnis aufwerfen. 

In seinem Kurzfilm "Hysterisis" nahm der Künstler Robert Seidel das Thema bereits 2021 auf und lässt Projektionen aus der "Feder" Künstlicher Intelligenz auf menschliche Kreationen und Bewegungen treffen. So verbinden sich Seidels Zeichnungen und digitale Animationen mit den Bewegungen der queeren Performerin Tsuki zu einem hypnotischen Bildrausch (Soundtrack: Oval), der immer wieder unsere kunstgeschichtlichen Assoziationen antippt, sich aber nie festlegen lässt. Der Künstler sieht das Werk als Gegenpol zur Berechenbarkeit, die uns der Einsatz von KI zunehmend aufzwingt. Kunst ist eben mehr als Mustererkennung. 

Robert Seidel "Hysteresis", auf Vimeo

Robert Seidel "Hysterisis", Filmstill
Foto: Courtesy Robert Seidel

Robert Seidel "Hysterisis", Filmstill


Was liest Florian Illies? 

Nur ein literarisches Werk zu nennen, das die eigene Weltsicht geprägt und das Herz getroffen hat, ist eine ziemlich schwierige Aufgabe. Der Kunsthistoriker, Autor und Monopol-Gründer Florian Illies bringt deshalb gleich sieben Titel mit in die Arte-Sendung "Das Buch meines Lebens". Alles andere sei ihm nach mehreren Jahrzehnten als Leser unmöglich gewesen. 

Mit Moderatorin Jagoda Marinić spricht er unter anderem über Gustave Flaubert, Milan Kundera und Martin Walser. Es geht aber auch um Illies' eigene Bücher, darunter das Werk "Zauber der Stille" zum Caspar-David-Friedrich-Jahr. Von dem romantischen Maler könne man unter anderem lernen, auf die Natur als etwas Fragiles, Gefährdetes zu blicken - eine Art der Betrachtung, die in Zeiten der Klimakrise wieder an Relevanz gewinnt.

"Das Buch meines Lebens", Arte-Mediathek, bis 2028

Florian Illies
Foto: dpa

Florian Illies


Der Stift als Waffe

Politische Karikaturen gibt es seit Jahrhunderten, und man kann sich fragen, ob die satirischen Zeichnungen in ihrer Reichweite inzwischen von Memes abgelöst wurden. Trotzdem gibt es überall auf der Welt noch Künstlerinnen, die sich durch ihre Arbeiten mit den Mächtigen ihres Landes anlegen - und teilweise sogar ihre Freiheit aufs Spiel setzen.

Die Serie "Zeichnen aus Protest" stellt fünf dieser furchtlosen Karikaturistinnen vor und reist zu ihnen nach Ägypten, Syrien, Russland, Indien und Mexiko. Die Protagonistinnen erzählen von ihrem Werdegang, den Anfeindungen, die sie erfahren und der politischen Situation in ihrem Land, die sie immer wieder zum Zeichenstift greifen lässt.

"Zeichnen aus Protest", ARD-Mediathek, bis 5. April

Die ägyptische Karikaturistin Doaa El Adl in der Serie "Zeichnen aus Protest"
Foto: Courtesy Arte

Die ägyptische Karikaturistin Doaa El Adl in der Serie "Zeichnen aus Protest"


Verliebt in den Teufel

Mit welcher berühmten Persönlichkeit aus der Kunstgeschichte würden Sie gerne einen Abend verbringen? Auf Francis Bacon (1909-1992) würde man als Antwort auf diese Frage eher nicht kommen. Und John Mayburys Spielfilm über den alternden Maler, 1998 gedreht und jetzt wieder im Kino und im Stream, vergrößert die Skepsis. Gegenüber dem Menschen, nicht dem Maler: Bacons nackt in leeren Bildräumen ausgesetzten Figuren, seine verzweifelt kopulierenden Ringer, seine schreienden Päpste, Bacons bis zu einer erbarmungslosen conditio humana verzerrten Porträts sind großartige Beispiele moderner Malkunst. 

Daran lässt auch der Film über den britischen Künstler irischer Herkunft keinen Zweifel. Mit Zerrlinsen und anderen optischen Mitteln erkundet "Love Is The Devil - Studie für ein Portrait von Francis Bacon" auch den Stil des Künstlers. Die Story beruht auf Bacons tatsächlicher Beziehung zu dem aus prekären Londoner Verhältnissen kommenden George Dyer, der sich 1971, zwei Tage vor der Eröffnung einer großen Bacon-Schau im Pariser Grand Palais, das Leben nahm. 

Ein halbes Jahrzehnt zuvor bricht George (Daniel Craig) in Francis’ (Derek Jacoby) Atelier ein. Der Maler überrascht den Dieb, doch statt ihn anzuzeigen, führt der Künstler den Kleinkriminellen in sein Schlafzimmer. Dyer wird Bacons Geliebter, doch nach einiger Zeit verliert der Malerfürst der Finsternis das Interesse an dem alles andere als selbstbewussten George. Allein als Figur in seinen Bildwelten hat sein Modell noch eine gewisse Bedeutung. 

Bacons Kälte und Dyers wachsende Verzweiflung überträgt sich hautnah auf die Zuschauenden. Sowohl der große Shakespeare-Darsteller Derek Jacoby als auch Daniel Craig vor seiner Bond-Karriere sind großartig besetzt, hinzu kommen Tilda Swinton, Anne Lambton und Annabel Brooks in kleineren Rollen als weibliche Musen. Der Film ist gut gealtert und überaus sehenswert – gerade weil er ohne Beschönigung auf einen menschlich problematischen Meister blickt.

"Love is The Devil", auf Amazon Prime

"Love Is The Devil", Filmstill, 1998
Foto: Courtesy Amazon

"Love Is The Devil", Filmstill, 1998


Hommage an René Pollesch

"Treten Sie bitte beiseite. Achtung, wir springen. Jetzt. Mut, Mut, Mut." Zum Schlagzeug-Intro von Bruce Springsteens "Streets of Philadelphia" erklingt die Stimme von Fabian Hinrichs aus dem Off. Während eines letzten "Muuuuuut" segeln der Schauspieler in glitzernder Regenbogenleggings und die ersten der Turnerinnen und Turner in hautengen Geldschein-Trikots an Seilen von der Decke auf den Boden der Berliner Volksbühne. Das gedehnte "U" geht in die Klänge des Synthesizers über. Schon dieser Anfang ist eigentlich zu schön, als dass man ihn in diesem Stück sehen dürfte, denn sein Titel ist Programm: "Kill your Darlings!".

Am 26. Februar 2024 verstarb René Pollesch, Regisseur vieler geliebter Inszenierungen und seit 2021 Intendant der Berliner Volksbühne, unerwartet im Alter von 61 Jahren. Zu seinen Lieblings-Theorie-Inspiration gehörten Jean-Luc Nancy und Donna Haraway, aber das Beste an seinen Aufführungen ist, dass sie irre Spaß machen, auch wenn man die Bezüge kaum oder gar nicht versteht. So auch "Kill your Darlings!", das aktuell in der 3sat-Mediathek zu sehen ist. 

Immer wieder posaunt Hinrichs: "Stopp, das ist zu schön, das ist zu gut, das können wir nicht ertragen" und trotzdem, oder eben gerade deswegen wirken diese 70 Minuten Monolog wie ein Rausch, ein Anti-Depressivum, eine unendliche Umarmung. Hat man einmal gesehen, wie Hinrichs rastlos über die Bühne irrlichtert, Thesen über den Unterschied zwischen Kollektiv und Netzwerk aufstellend, mit strahlenden Augen und Spucke im Mundwinkel und zu "Streets of Philadelphia" immer wieder den Satz "Es fehlt etwas, es reicht uns nicht" skandiert, dann ist die Szene kaum mehr aus dem Kopf zu kriegen. Wie schön also, gerade jetzt, noch einmal (oder erstmals) in den Genuss dieses Polleschs-Stücks zu kommen.

"Kill Your Darlings", 3-Sat-Mediathek, bis 27. Mai

Fabian Hinrichs in Rene Polleschs Stück "Kill Your Darlings"
Foto: Courtesy 3Sat

Fabian Hinrichs in Rene Polleschs Stück "Kill Your Darlings"